Wenn ein Blind Date zum spannenden Kunstereignis im Gerhard-Marcks-Haus wird

Wenn ein Blind Date zum spannenden Kunstereignis im Gerhard-Marcks-Haus wird

Eine Verabredung mit lauter geheimnisvollen Gestalten. Das „Blind Date“, das das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen ausrichtet, ist in mehr als einer Hinsicht ungewöhnlich. Die vielen Unbekannten verraten selbst am Ende des Treffens nicht ihre Namen.

Rätsel über Rätsel beim Blind Date

Schau im Marcks-Haus wagt ein Experiment: Besucher erhalten keine Information über die Werke

Ein „Blind Date“, so der Titel der Ausstellung, ist eigentlich ein Rendezvous, bei dem sich zwei Menschen begegnen, die nichts oder nur wenig übereinander wissen. Die Menschen, die ich im Gerhard-Marcks-Haus treffe, kenne ich jedoch. Während der Direktor Arie Hartog und die Kuratorinnen Mirjam Verhey-Focke und Veronika Wiegartz sonst sehr beredt über die Künstler und die Kunst sprechen, sind sie dieses Mal nicht sonderlich auskunftsfreudig. Denn die Museumsleute wagen ein Experiment: Sie wollen die Betrachter dazu bringen, sich ohne Vorwissen auf die Werke einzulassen.

Wer die Bildhauerinnen und Bildhauer in der Ausstellung sind, wird nicht preisgegeben. Nur so viel: alle Arbeiten stammen aus der Sammlung.

Auch der Soldat, der sich in seinem Mantel verkrochen hat, hüllt sich in Schweigen. Er scheint zu frieren, wirkt gar nicht wie ein Held, sondern wie ein Verlorener, der vor seinem inneren Auge all das Leid sieht, das er auf den Schlachtfeldern miterleben musste. So viel sei dann doch verraten - ich habe schließlich kein Schweigegelübde abgelegt: Geschaffen hat ihn ein Mann, den der Erste Weltkrieg zum Pazifisten formte und der über seine Figuren sagte: „Die Erschütterung der Todgeweihten brachte ihnen nicht den Zusammenbruch, sondern ließ sie in eine höhere Sphäre aufsteigen, wo kein Sinnloses sie mehr schreckt.“ Na, ahnen Sie jetzt, wer es ist?

Solche Rätsel bietet die Schau in Hülle und Fülle. Skulpturen. Keramiken, Zeichnungen, Druckgrafik und Fotos von 65 Künstlerinnen und Künstler sind dort zu sehen. Gerhard Marcks ist nur einer von vielen.

„Man macht das Dünne dünner“

Der Namensgeber des Museums begegnet uns in einem Raum überall: als Holzschnitt, als Zeichnung, als Skulptur, porträtiert haben ihn Freunde und Künstlerkollegen. Im Grunde sei Bildhauerei ganz einfach, soll Marcks einmal gesagt haben, „man macht das Dünne dünner und das Dicke dicker.“ Damit brachte der Mann mit der komischen Frisur - Achtung, das ist sein Erkennungszeichen - sein Vorgehen auf den Punkt. Wer das Dicke dicker macht, entfernt sich zwar vom Naturvorbild, doch es bleibt immer noch als Richtschnur vorhanden.

Sie könnten kaum unterschiedlicher sein, auch wenn sie in einem Raum versammelt sind: die figürlichen Darstellungen und das tonnenschwere Element, das an der Wand lehnt.

© Sandra Beckefeldt

Sie könnten kaum unterschiedlicher sein, auch wenn sie in einem Raum versammelt sind: die figürlichen Darstellungen und das tonnenschwere Element, das an der Wand lehnt.

Nicht nur die „Rennfahrer“ stemmen sich in der Ausstellung gegen den Wind der Abstraktion. Gebückt und mit hohem Tempo scheinen sie einem neuen Rekord entgegenzustrampeln. Obwohl die Gruppe aus schwerer Bronze besteht, wirkt sie dynamisch und völlig unangestrengt. Auch die vielen Vögel mögen sich in keine Kunst-Schublade stopfen lassen.

Marcks und viele seiner Kollegen überlassen die radikalen Experimente lieber der Avantgarde. „Ich habe mich mit abstrakten Möglichkeiten beschäftigt. Der Widerstand der Figur ist für mich eine größere Herausforderung“, so formulierte es ein anderer. Diese figürlichen Tier- und Menschenskulpturen könnte man als einen Vorschlag zur Güte lesen, nicht zu modern, aber auch nicht altbacken.

Farbliche Bände gliedern Themengruppen

Damit wir nicht völlig den Überblick verlieren, haben die Kuratorinnen die Werke - „Wir haben nicht gezählt, wie viele es sind“ - in Themengruppen zusammengefasst. Doch auch hier geben sie nur Anhaltspunkte. Farbliche Bänder verraten, wer mit wem zusammenhängt.

So sind wir auf uns allein gestellt. Denn auch die Werke schweigen eisern, verraten uns noch nicht einmal das Jahr, in dem sie entstanden sind. Nur eines wissen wir: die Arbeiten umfassen die Zeitspanne vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Da ist es klar, dass es einige abstrakte Arbeiten ebenfalls in die Schau geschafft haben wie die Figur im Eingangsbereich, die sich nicht mehr aus Körperteilen zusammensetzt, sondern aus Volumen und Hohlräumen.

Die Figuren sind mal ganz klein und mal riesengroß. Doch immer fordern sie die Aufmerksamkeit der Besucher ein.

© Sandra Beckefeldt

Die Figuren sind mal ganz klein und mal riesengroß. Doch immer fordern sie die Aufmerksamkeit der Besucher ein.

Immer wieder geht es um Symmetrien und Asymmetrien, führen die Arbeiten vor, wie das so funktioniert mit Masse, Gewicht und Schwerkraft. Und schulen so unsere Augen.

Die Bildhauerei war lange eine Männerdomäne. Die wenigen Frauen ernteten oft nur Hohn und Spott: „Merkwürdigerweise machen ein paar Frauen sich besonders bemerkbar, wenn auch nicht im besten Sinne. Renée Sintenis ist bizarr und graziös, Käthe Kollwitz (…) gänzlich verunglückt bei der Behandlung der Gliedmaßen; Milly Steger äfft Lehmbruck nach, und Margarete Moll strebt einen Scheußlichkeitsrekord an“, schrieb ein Kritiker 1916. Das hat sich Gottlob geändert. Heute ist Arie Hartog stolz, dass ein Viertel der gezeigten Arbeiten von Frauen stammt. Doch welche sind es bloß? Sind Steger und Sintenis in der Schau vertreten? Wer das wissen will, muss sich bis zum 9. Februar gedulden. Dann erfahren die Besucher endlich, welches Werk von wem geschaffen wurde. Dann tappt niemand mehr im Dunkeln. Auf dieses Date freue ich mich besonders.

  • Was: „Das Kapital. Blind Date“
  • Wo: Gerhard-Marcks-Haus, Am Wall 208 in Bremen
  • Wann: Bis zum 25. Februar. Die Schau ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet, donnerstags bis 21 Uhr.

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Erstellt:
05.12.2023, 16:17 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 25sec

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