
Stricken aus Leidenschaft. (Symbolbild)
Foto: Patrick Pleul
Wolllust: Wenn das Herz fürs Stricken schlägt
Für die einen ist es das legendäre „Om“, für die anderen das Klackern von Strick- und Häkelnadeln - beidem wird die gleiche Wirkung nachgesagt: Menschen in tiefe Gelassenheit zu versetzen. Das ist nicht der einzige Grund, warum Stricken auf der Agenda der Lieblingshobbys oben rangiert. Pullover, Mäntel, Kleider sind nur einige Resultate, Ausdruck von Kreativität und Individualität. Und natürlich im Winter materialisierte Fürsorglichkeit - wenn es darum geht, sich und die Liebsten in warme Kleidung zu hüllen.
Im „Filati“ von Renate Raehse beispielsweise finden Strickbegeisterte aber noch viel mehr: „Ich mag die Atmosphäre hier“, verrät Anja Finck. Neben Hilfestellungen bei der Umsetzung kunstvoller Strickprojekte habe die Geschäftsinhaberin stets auch ein offenes Ohr für Privates. „Ich stricke seit 30 Jahren“, erzählt Anja Finck und macht es sich auf einem der Stühle bequem. Er ist Teil einer kleinen Sitzecke, die dem Raum etwas sehr Privates verleiht. „So lange komme ich auch schon zu Frau Raehse“, fügt Anja Finck hinzu, während die Wolle ihres neuesten Strickprojektes durch ihre Hände gleitet.
Auch private Dinge kommen auf den Tisch
Beim gemeinsamen Stricken, beim Fachsimpeln und auch der einen oder anderen Tasse Kaffee kommen natürlich auch private Dinge auf den Tisch. „Ich habe zahlreiche Stammkunden“, berichtet Renate Raehse.
Seit 1992 betreibt sie ihr Wollgeschäft „Filati“ in der Schillerstraße. In dessen Schaufenster machen Strickmodelle, kuschelige Garne und ein großes Bild von Schafen, die in Wolle gehüllt sind, Lust aufs Eintreten in den kleinen Strick-Tempel. Regale reihen sich aneinander bis unter die Decke - befüllt mit: richtig, Wolle in allen Farben, Strukturen und Beschaffenheiten sowie jeglichem Zubehör, den das kreative Herz begehrt: Knöpfe, Nadeln, und, und, und.
Mittendrin berät Renate Raehse gerade eine Kundin.

Elisabeth Ise (links) und Renate Raehse teilen die Liebe zum Handarbeiten.
Foto: Lammers
Vertraute Atmosphäre
„Ich würde die Merino nehmen“, rät sie ihr. „Hast Du noch genug in dieser Farbe?“, fragt die ganz offensichtlich längst überzeugte Frau mittleren Alters. „In die habe ich mich schon verliebt.“
Mit ihren Stammkunden ist Renate Raehse per Du. Teil einer vertrauten Atmosphäre unter Menschen, die die gleiche Liebe für eine kreative Leidenschaft hegen. „Mich selbst hält mein Geschäft am Leben, seitdem mein Mann vor zwanzig Jahren verstorben ist“, sagt die 83-Jährige. Auch erheblich jüngere Menschen suchten den Weg zu ihr, erzählt sie. „Stricken ist keine Frage des Alters. Es gibt viele junge Leute, die sich damit beschäftigen.“
Und das aus gutem Grund: „Mich beruhigt das Stricken unheimlich“, bescheibt Anja Finck, warum sie die Finger schon seit so langer Zeit nicht von den Nadeln lassen kann. Manchmal sucht sie das kleine Wollgeschäft mehrmals in der Woche auf. Dort entspannt sie dann nach ihrem Arbeitstag im Klinikum Reinkenheide.
Obwohl bereits der Weg das Ziel ist, freut sie sich über ihre Ergebnisse: „Ich habe ein blaues Strickkleid. Das trage ich schon seit Jahren und liebe es noch immer“, berichtet Anja Finck von einem ihrer kreativen Lieblingsstücke.

Anke Kopf (links) strickt sehr gerne für ihre Lieben.
Foto: Lammers
Inspriration aus den Musterheften
Und auch wenn die Inspirationen vielleicht aus einem der vielen Musterhefte stammt, die Renate Raehse in dem hohen weißen Regal aufbewahrt, ist jedes gestrickte Teil ein individuelles Einzelstück.
Inspirationen, Tipps und frische Wolle
„Es macht mich richtig sauer, wenn jemand zu mir sagt, mein Gestricktes sähe ja aus wie gekauft“, sagt Elisabeth Ise inbrünstig. Sie hat gerade ihr Fahrrad vor dem „Filati“ geparkt, um sich mit Inspirationen, Tipps und frischer Wolle zu versorgen. Läuft mal die eine oder andere Masche quer, ist das für Elisabeth Ise eher ein weiterer Beweis der materialisierten Individualität. Das Ringen um Akkuratesse gerät hier durchaus mal zur Glaubensfrage: „Ich kenne meine Pappenheimer“, sagt Renate Raehse augenzwinkernd - aber natürlich entscheidet hier jeder für sich selbst, wie genau er es mit der Akkuratesse nehmen will. Anke Kopf, ebenfalls seit Jahren Stammkundin im „Filati“, zeigt auf ihr an Ebenmäßigkeit kaum zu überbietendes Stück Strick und fügt trocken ein „Ich kann nur geradeaus stricken“ hinzu. Sie beglückt vor allem ihre erwachsenen Söhne mit Selbstgestricktem. Zu Weihnachten im vergangenen Jahr gab es für jeden in der Familie einen selbstgestrickten Schal.
Stricken schon immer geliebt
Gunda Rövensthal hat ihre Liebe zum Stricken sogar zum Beruf gemacht: Seit 2009 betreibt sie den „SB-Wollmarkt“ in der Buchtstraße. Davor war die damalige Altenpflegerin selber Kundin in dem rund 200 Quadratmeter großen Fachgeschäft. „Ich habe das Stricken schon immer geliebt und es früh von meiner Mutter gelernt.“ Gunda Rövensthal trägt einen leuchtenden kuscheligen Pullover an diesem Morgen. Selbstgestrickt? „Selbstverständlich“, sagt sie und lächelt. „Ich trage an jedem Tag etwas Handgestricktes. Das ist ja auch eine Inspiration für meine Kunden.“ Die kommen zum Teil von weit her, um in das einzutauchen, was Gunda Rövensthal liebevoll als ihr Schlaraffenland bezeichnet. „Es gibt immer weniger Wollgeschäfte. Meine Kunden wohnen zum Teil in Cuxhaven, in Brake, in Bederkesa.“

Gunda Rövensthal hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Sie betreibt den SB-Wollmarkt.
Foto: Lammers
Nachfolgesuche
Und damit diese auch auf gar keinen Fall vor verschlossener Tür stehen, hat der „SB-Wollmarkt“ auch durchgehend und bereits ab 9 Uhr geöffnet. So glücklich Gunda Rövensthal mit ihrem „SB-Wollmarkt“ auch ist: „Zum Jahr 2024 möchte ich mich aus dem Berufsleben verabschieden. Daher bin ich auf der Suche nach einem Nachfolger für das Geschäft. Interessenten können sich gerne unter 0471/ 28628 bei mir melden.“

Eine große Auswahl an allem, was das kreative Herz begehrt, findet sich im SB-Wollmarkt.
Foto: Lammers
Babyschühchen
An einer Kleiderstange hängen Kleidungsstücke, die Gunda Rövensthal gestrickt hat: „Ich habe immer neue Ideen. Die entstehen sehr viel häufiger in meinem Kopf, als dass ich sie aus einem Musterheft habe.“ Kein Wunder also, dass sie ihren Kunden mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn es darum geht, die eigene Mode aus Wolle entstehen zu lassen. „Beim Stricken zu unterstützen gehört einfach dazu.“ Und: „Ich möchte ja auch nicht, dass meine Wolle in einer Ecke in Vergessenheit gerät, nur weil es an irgendeiner Stelle Probleme beim Stricken gab.“ Stricken soll schließlich Freude machen, findet Gunda Rövensthal. „Und den Kopf frei machen.“ Regale voller Wolle, Körbe voller Stricksocken, Babyschühchen, Topflappen, Taschen und Tücher laden ein, sich dem Experiment kreative Selbstverwirklichung zu stellen. Das hat übrigens keine Altersbeschränkungen: „Ich habe sowohl junge als auch ältere Kundinnen“. Denn im Prinzip suchen hier alle das Gleiche: Freude und Entspannung. Om. (ala)