Diese junge Frau findet im Tattoo-Studio auf dem Dorf ihre Bestimmung

Diese junge Frau findet im Tattoo-Studio auf dem Dorf ihre Bestimmung

Marie Vöge eröffnete in einer Neuenwalder Nebenstraße ihr Tattoo-Studio. Damit hat die junge Frau sich einen Traum verwirklicht, den sie nie geträumt hat. Warum sie dafür mit Vollgas unterwegs sein musste, bis das Leben auf die Bremse trat.

Gegen Vorurteile und dunkles Image

Diese junge Frau findet im Tattoo-Studio auf dem Dorf ihre Bestimmung

Wer in Neuenwalde vor dem unscheinbaren Haus hält, erwartet nichts Ungewöhnliches. Es öffnet eine junge Frau, tätowiert, lange blonde Haare, große goldene Ohrringe. Sie führt durch einen Flur mit Bildern ihrer Pferde, Freunde und Familie vorbei ins Arbeitszimmer. Seit dem 1. Oktober 2022 betreibt Marie Vöge in diesem 12 Quadratmeter großen Raum ihr Tattoo-Atelier.

Der Raum ist hell, modern, schwarz-weiß. Ein schwerer roter Sessel bringt Farbe ins Spiel. Ihre Arbeit spiegelt sich im Studio wider. Die 27-Jährige tätowiert vor allem „Black and Grey“ (Schwarz und Grau) und Fineline, also Tattoos, die sich durch filigrane Linien und Muster auszeichnen. Nur selten setzt sie mit roter Farbe Akzente.

Auf dem Display eines Handys ist ein Tattoo Motiv zu sehen.

© Arnd Hartmann

Marie Vöge aus Neuenwalde ist selbstständige Tätowiererin. Ihr Spezialgebiet: Sogenannte Fineart-Tattoos. Im Bild: Für ihre Tattookunst wirbt die junge Frau auf den sozialen Medien. Foto: Hartmann

Tätowiererin, Therapeutin und Kummerkasten

Seit Eröffnung legen sich die verschiedensten Menschen auf ihre Liege: Schwestern lassen sich tätowieren, wenige Wochen später die Mutter - begeistert vom Ergebnis und inspiriert vom Mut ihrer Töchter. Beim Supermarkt im Ort kommt Vöge mit Einwohnern ins Gespräch, wenige Tage darauf folgt ein Anruf von deren Verwandtschaft. Das wichtigste im Kontakt mit ihren Kunden sei Vertrauen. Vöge bringt nicht nur Farbe in die Haut - „Ich bin gleichzeitig auch immer ein bisschen Therapeutin und Kummerkasten“, sagt sie und lacht, „Das ist so wie beim Friseur, glaube ich.“ So ungewöhnlich der Standort für ein Tattoo-Atelier sein mag – Empfehlung über den Dorffunk funktioniere.

Ein Tattoo-Atelier auf dem Land sei aber schon etwas anderes als in der Stadt. „Je größer die Stadt, desto bunter die Leute und desto mehr gehen die Leute anders mit unkonventionellen Menschen um“, sagt sie. Wenn jemand fragt, was sie beruflich macht, antworte sie deswegen selten „Tätowiererin“. „Der Begriff ist noch negativ besetzt, vor allem auf dem Dorf. Aber das Interesse ist da.“ Auch ihre Nachbarn hätten sich zu Beginn gewundert, mittlerweile habe sie schon einige aus der Straße tätowiert.

Ein Muster wird auf einen Unterarm tätowiert.

© Arnd Hartmann

Mit ihrer kabellosen Tätowiermaschine bringt sie am liebsten feine Motive in die Haut.

Haben Landbewohner Vorbehalte?

Marie Vöge wünscht sich ein Atelier mit Empfangsraum und einem kleinen Büro-Bereich - am liebsten im direkten Umkreis von Neuenwalde. Sie schaltete deswegen eine Anzeige im Internet auf der Suche nach Gewerberäumen. Innerhalb kurzer Zeit erhält sie viele Nachrichten. Etwas Passendes war nicht dabei. Die zweite Anzeige mit dem Wort „Tattoo-Atelier“ erhält keine Rückmeldung.

„Viele haben vielleicht noch Vorurteile, erwarten dunkle Gestalten. Aber dieses dunkle Image - das bin ich nicht, das ist meine Kunst nicht, und nichts, was ich verkörpern möchte.“ Dass sie mit Kunst auf der Haut einmal ihren Lebensunterhalt verdienen würde, war vor einem Jahr noch nicht abzusehen.

Vollgas, bis das Leben auf die Bremse tritt

Marie Vöge könnte man als Überflieger bezeichnen. Mit 16 machte sie Abitur in Otterndorf, absolvierte in kürzester Zeit eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten, um die Zeit bis zum Zahnmedizin-Studium zu überbrücken. Ein Unfall kostete sie Kraft in der linken Hand. So begann sie ein Jura-Studium. Dann half sie ihrem Vater im Familienbetrieb aus, gewöhnte sich ans Geldverdienen und arbeitete die nächsten sieben Jahre in einer Spedition. Bis sich im September 2021 ihr Leben schlagartig veränderte - Depressionen mit Burnout.

Die junge Frau stellt von heute auf morgen alles auf den Kopf. Lässt Arbeit, Beziehung und ihren Resthof hinter sich. Findet eine neue Liebe und ein neues Zuhause in Neuenwalde. Es ist ein Jahr der Heilung - und der Suche nach dem, was sie wirklich glücklich macht.

Kreativität kehrt zurück

Nach und nach kehrte die Kreativität zurück, erinnert sie sich. Der Stift glitt wieder über Papier, später übers Tablet. Die ersten Tattoo-Ideen entstehen, dann wagt sie den Sprung ins kalte Wasser: Marie Vöge macht ihre Leidenschaft zum Beruf.

Auf dem Display eines Handys ist ein Tattoo Motiv zu sehen.

© Arnd Hartmann

Für ihre Tattookunst wirbt die junge Frau auf den sozialen Medien.

Früher war Tätowieren nur ein Hobby. Erst übte sie an sich selbst, dann an Freunden und Freiwilligen. Ein erfahrener Tätowierer stand ihr mit Rat und Tat zur Seite. Der Rest war Learning by doing, denn eine Ausbildung zur Tätowiererin gibt es nicht. Jetzt ist sie nicht nur Tattoo-Künstlerin, sondern auch Buchhalterin, Sekretärin, Putzfrau. „Du muss dich als Selbstständige plötzlich um alles kümmern. Das war am Anfang nicht so einfach. Aber jetzt läuft’s.“ Und mehr als das. Noch nie habe sie so einen Spaß bei der Arbeit gehabt. Genauer gesagt fühle sich all das gar nicht wie Arbeit an.

„Wenn mich jemand mit 18 gefragt hätte, wo ich mich in zehn Jahren sehe, dann wäre das sicher kein Tattoo-Atelier gewesen“, sagt Vöge und lacht. Der Sprung ins kalte Wasser sei aber „goldrichtig“ gewesen. Endlich habe sie das gefunden, was sie erfüllt. Eine Sache will sie noch mitgeben: Es sollten alle mehr das tun, was sie glücklich macht und keine Angst davor haben. Das sei wichtig, sagt sie mit Blick auf ihre Reise. „Das musste ich auch lernen.“