Verloren und doch gewonnen
Dem emotionalen Neuanfang folgt aber auch eine schmerzliche Erkenntnis: Diese Mannschaft wird es so nie mehr geben. Major Toms Song „Völlig losgelöst“ war am Freitagabend in Stuttgart völlig daneben, denn das Raumschiff mit der deutschen Mannschaft war ziemlich unsanft abgestürzt.
Das Gegentor zur 1:2-Niederlage nach Verlängerung durch Mikel Merinos Kopfball in der 119. Minute hatte den Traum vom Titel im eigenen Land jäh gestoppt. „Die bessere Mannschaft hat verloren“, wertete Joshua Kimmich, und auch Julian Nagelsmann sagte gleich nach dem Spiel fast trotzig: „Ab der 60. Minute waren wir die klar bessere Mannschaft.“
Spieler verlassen mit Tränen in den Augen das Camp
Danach allerdings zeigte sich der Bundestrainer keinesfalls mehr ruhig. Erst in der Pressekonferenz in Stuttgart und auch einen Tag später bei der Abschluss-Pressekonferenz mit Sportdirektor Rudi Völler und DFB-Präsident Bernd Neuendorf war er emotional aufgewühlt.
Als er schildere, dass fast alle Spieler beim Verlassen des Camps in Herzogenaurach Tränen in den Augen hatte, musste er mehrfach schlucken.
„Ich glaube, dass jeder voller Stolz die deutsche Fahne rausholen konnte.“
Fast staatsmännisch sagte er: „Es ist wichtig zu realisieren, in welch schönem Land wir leben, landschaftlich und kulturell. Was wir für Möglichkeiten haben, wenn wir alle zusammenhalten und nicht alles extrem schwarz malen, dem Nachbarn nichts gönnen und von Neid zerfressen sind.“ Seine Botschaft: „Wichtig ist, alle Menschen zu integrieren, zu einen, dass sich hier alle wohlfühlen.“
Eine heftig diskutierte und umstrittene Entscheidung
„Wir werden den Rücken durchdrücken und wieder angreifen“, versprach auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf, der sich an seinem 63. Geburtstag „insgesamt durch dieses Turnier beschenkt“ fühlte, denn: „Ich habe das Gefühl, dass die Leute richtig in einem Rausch waren.“ Joshua Kimmich sagte dazu: „Ich glaube, dass jeder voller Stolz die deutsche Fahne rausholen konnte.“
Das Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Spanien hat für eine Rekordzuschauerzahl im TV bei diesem Turnier gesorgt. Durchschnittlich 26,129 Millionen Menschen hatten am Freitagabend in der ARD die 1:2-Niederlage des Teams von Bundestrainer Julian Nagelsmann nach Verlängerung gesehen. Der öffentlich-rechtliche Sender kam auf einen Marktanteil von 80,9 Prozent.
Die Werte der deutschen Partien lagen deutlich über den Zahlen der enttäuschenden WM in Katar, damals schied das deutsche Team in der Vorrunde aus.
Beklagt wurde natürlich auch die Entscheidung von Schiedsrichter Antony Taylor, der den Deutschen den Elfmeter verweigerte, obwohl Jamal Musiala beim Torschuss Marc Cucurellas linke Hand getroffen hatte. Eine heftig diskutierte und umstrittene Entscheidung, mit Für und Wider bei Schiedsrichter-Experten.
Bei Gegentoren alle Tugenden der Defensive vernachlässigt
Bei allem Pathos fehlte in nahezu allen Statements die nüchterne Analyse. Sicher, die deutsche Mannschaft spielte gegen die Spanier nach dem Rückstand ab der 52. Minute emotional, aufregend, mitreißend.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei beiden Gegentoren einige Tugenden der Defensive vernachlässigt wurden: Erst konnte Lamine Yamal ungestört von David Raum vom rechten Flügel nach innen passen und Dani Olmo mit ebenso viel Platz, Ruhe und Bedacht veredeln.

© Murat/dpa
Sein Treffer reichte nicht: Deutschlands Florian Wirtz muss zusehen, wie die Spanier den Halbfinal-Einzug feiern.
Und beim zweiten Tor konnte Olmo ungestört vom linken Flügel flanken, weil Kimmich nicht eng an ihm dran war. Dass dann Antonio Rüdiger Merino nicht im Blick hatte, war verheerend. Eine Minute vor dem Elfmeterschießen so ungeordnet zu stehen, war der größte Fehler in diesem Drama.
Apropos: Auch Nagelsmann lag mit seinem Matchplan falsch. Die Idee, Emre Can und Leroy Sané starten zu lassen, war ein Missgriff, den Nagelsmann mit der Hereinnahme von Robert Andrich und Florian Wirtz in der Pause korrigierte.
Nagelsmann nimmt die WM ins Visier
Der Blick voraus: Der Bundestrainer muss sein Team neu justieren, einen neuen Motor einbauen, denn Toni Kroos hat seine Karriere am Freitagabend beendet. „Er ist nicht eins zu eins ersetzen“, sagt Nagelsmann. Ob Ilkay Gündogan in der Schaltzentrale weiter zur Verfügung steht, ist offen. „Ich war froh, dass er da ist und unser Kapitän war. Deshalb gehe ich davon aus, dass er uns weiterhin zur Verfügung steht“, sagte Nagelsmann, der gleich noch eine Perspektive eröffnete: „Das Traurigste ist, dass es eine Heim-EM in meiner Karriere wahrscheinlich nicht mehr geben wird, und dass man zwei Jahre warten muss, bis wir Weltmeister werden.“
Den erstaunten Blicken im Saal folgte eine kurze Pause, dann ergänzte Nagelsmann: „Was soll ich sagen? Dass wir in der Vorrunde ausscheiden? Natürlich wollen wir Weltmeister werden.“ Noch vor vier Wochen wäre er mit so einer Ansage als Fantast betitelt worden. Völlig losgelöst. Doch die Zeiten haben sich geändert.
Rekordzuschauerzahl
Joshua Kimmich

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