Mit „Der Absturz“ schließt Édouard Louis seine Familiensaga ab, die mit „Das Ende von Eddy“ begann.

Mit „Der Absturz“ schließt Édouard Louis seine Familiensaga ab, die mit „Das Ende von Eddy“ begann.

Foto: Henning Kaiser

Kino

Neues Buch in Familiensaga

Absturz ins Selbstmitleid: Édouard Louis über seinen Bruder

Von Sebastian Fischer, dpa
21. September 2025 // 09:51

Geplatzte Träume, Scheitern in Liebe und Beruf, Herzstillstand mit 38: Frankreichs Star-Autor schildert schonungslos, wie familiäre Kälte und Klassenunterschiede das Leben seines Bruders prägten.

Erst vor wenigen Monaten hat er mit „Monique bricht aus“ ein weiteres Buch über seine Mutter veröffentlicht, jetzt richtet der gefeierte französische Autor Édouard Louis (32) in seinem neuen Roman den Rückblick auf das kurze Leben seines kürzlich gestorbenen Bruders. „Der Absturz“ ist der letzte Teil der autofiktionalen Familiensaga, die vor mehr als zehn Jahren mit dem Sensationsdebüt „Das Ende von Eddy“ begann.

„Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts“, heißt es gleich zu Beginn. Seit fast zehn Jahren hat er ihn nicht gesehen, geliebt nie. Der sieben Jahre ältere Bruder stirbt nach einem Herzstillstand im Alter von 38 Jahren. Die Beerdigung soll Louis aber bitte zahlen, „schließlich sei ich der Verräter, der sein Geld damit verdiene, Bücher über unsere Familie zu schreiben“.

In Fragmenten wird ein von Drogen, Alkohol, Gewalt und Kleinkriminalität gezeichnetes Leben zusammengebaut, das nie irgendwo ankam. Abgesehen von Wutanfällen sei der Bruder der freundlichste und sanfteste Mensch der Welt gewesen. Aber gerade diese Ausraster sind es, die zum Scheitern führen. 

Sein Leben ist gezeichnet von Rauswürfen: vom Vater, von den Chefs, von den Partnerinnen. „Er trank und versank im Selbstmitleid“, heißt es einmal, „und dann, ganz plötzlich wurde er vor lauter Selbstmitleid aggressiv“.

Er wurde immer nur Versager oder fauler Sack genannt

Im Mittelpunkt steht die Frage: Hätte sein Leben anders verlaufen können? Denn der Bruder hatte einst große Träume: Er wollte der beste Metzgermeister Frankreichs werden, später Elitehandwerker für Schlösser und Kathedralen. Zu Hause wird ihm aber immer nur Versager, Waschlappen oder fauler Sack zugeraunt. Eine Kaskade der Bosheiten. „Mein Vater litt unter der Armut und dem Leben in der Fabrik, deshalb war er gemein zu meiner Mutter. Meine Mutter litt unter der Gewalt meines Vaters, deshalb war sie gemein zu uns.“

Louis seziert, wie die Zugehörigkeit zur einkommensschwachen Klasse auch innerhalb einer Familie zu Widerständen führt. Gerade in extremer Armut fehle die Möglichkeit, „sich ausprobieren zu können, ganz gleich, ob man mit seinen Plänen scheitert oder nicht“. Hinzu komme das Schweigen in der Arbeiterklasse zu seelischen Wunden. Das Konzept einer Depression existiere dort nicht. In privilegierteren Klassen gebe es hingegen psychologische Hilfe.

Auch am Ende seiner Familiensaga beweist Louis erneut ein scharfes Gespür für die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Mit seiner Sprache bleibt er so nüchtern und distanziert wie das Verhältnis zu seinem Bruder, von dem er kaum etwas wusste. „Der Absturz“ ist sein „Bollwerk gegen das Vergessen“.