Klagelieder mit Gänsehaut-Faktor
Von Troja stehen nur noch ein paar Mauerreste. Die Zinne einer Burg. Oder ein zerstörtes Amphitheater. Oder gleicht das Gebilde auf der Bühne des Großen Hauses einem Treidelkahn? Denn die namenlosen Frauen scheinen ihn wie Esel allein mit ihrer Muskelkraft im Kreis zu ziehen. Weiter und weiter. Kein Ausweg, nirgends. Ein starkes Bild, welches Kathrin Krumbein für die Bühne im Großen Haus entworfen hat, das die Ohnmacht der Frauen verdeutlicht, die die Kriegsgräuel seit Jahrtausenden erleiden. Regisseurin Anja Panse wählt mit Bedacht für „Die Troerinnen“ von Euripides keinen konkreten Ort.
Immer wieder überziehen Kriege das Land
Immer wieder gibt es neue Opfer überall auf der Welt. Kriege überzogen das Land sowohl in der Antike, im Mittelalter als auch in der Neuzeit. Auf diesen nie endenden Schrecken spielen die Kostüme von Dinah Ehm an. Da gibt es die an Mönchsgewänder erinnernden Kutten der namenlosen Frauen, das moderne Abendkleid der Königin ebenso wie den Samtanzug eines Königs, mit Anklängen an die französische Mode des 18. Jahrhunderts.
Keine Frage, die Menschheit ist unfähig, aus ihren Fehlern zu lernen. Davon ist der zürnende Gott Poseidon (Marc Vinzing) überzeugt. Er setzt seine Worte wie Giftpfeile, stimmt die Zuschauer ins Unfassbare ein. Vor ihm liegt die zerstörte Stadt, hinter ihm das Meer.
Der Gott, der immer mal wieder seine helfende Hand ausstreckt, die niemand ergreift, ist nur eine Nebenfigur. Im Mittelpunkt der Tragödie stehen die herzerweichenden Klagen der Frauen. Anja Panse will mit ihrer Inszenierung, in der jedes Detail stimmt, nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch den Bauch. So untermalen die Hintergrund-Projektionen, die mal an abstrakte, expressive Gemälde, mal an Landschaftsbilder erinnern, stimmungsvoll die wechselnden Szenen.
Die Klagen der namenlosen Frauen
Für noch mehr Gefühl sorgen die herzerweichenden Klagen der namenlosen Frauen, die in Bremerhaven nicht nur gesprochen, sondern vom spielfreudigen Opernchor (Einstudierung: Edward Mauritius Münch) gesungen werden. Die an Dissonanzen reichen Chorstücke, von Cindy Weinhold komponiert und von Ludger Nowak elektronisch verstärkt, heben den Grundkonflikt des Stückes auf eine emotionale Ebene. Da macht es kaum etwas, dass die Texte nicht immer verständlich sind, das, was sie ausdrücken sollen, versteht man so. Die zehn Chorfrauen agieren fast wie Solistinnen, jede einzelne gibt ihrer Figur eine andere Farbe.
Dem Untergang geweiht sind selbst die Überlebenden. Die Zivilisation ist rettungslos verloren. Hebake, die alte Königin von Troja, ringt noch um Fassung. Die großartige Angelika Hofstetter verleiht ihr in ihrer Trauer Würde. Doch diese Haltung wird brüchig, zu schwer wiegt der Verlust ihrer Söhne und ihres Mannes. Letztendlich obsiegt die Verzweiflung. Wie Hofstetter diesen Schmerz darstellt, sorgt für Gänsehaut. Da stimmt jede Geste, sitzt jeder Ton - zumal der wunderbare Walter Jens in seiner Bearbeitung eine Form gefunden hat, die Alltagssprache aufgreift, ohne das Versmaß zu verleugnen.
Die Seherin Kassandra wird zur Furie
Als Katastrophen-Künderin, zur Nebenfrau Agamemnons erniedrigt, ist Kassandra weniger verzweifelt als vielmehr wütend. Julia Lindhorst-Apfelthaler macht aus der Seherin eine wild hin und her zuckende Furie. Marsha B Zimmermann beeindruckt als Andromache, die die Toten beneidet. Die liebende Mutter stürzt sich zusammen mit ihrem Kind (abwechselnd von Tius Förster und Sindbad Rose gespielt), das die Griechen töten wollen, vom Felsen. Diese drei Schauspielerinnen haben sprechen so, als ob es tatsächlich um ihr Leben ginge. Sie haben das Zeug zur großen Tragödin.
Bliebe Helena, die ihren Mann Menelaos (Frank Auerbach als selbstgefälliger Opportunist) verlassen und ihrem Geliebten Paris nach Troja folgte. Anna Caterina Faddas setzt als leicht verruchte Diva gekonnt ihre Reize ein. Das Aufeinandertreffen der Eheleute inszeniert Regisseurin Panse wie einen Gerichtsprozess. Obwohl Hekabe im einzigen großen Dialog des Stückes Helena als Schuldige am Kriegsausbruch überführt, verfällt Menelaos erneut dem Charme seiner Gattin. Die beiden Heuchler, die überall ihren Vorteil herausschlagen, haben sich wahrlich verdient.
Der Bote ist ein Befehlsempfänger
Die Griechenfürsten, in den Klagen der Frauen stets präsent, erscheinen - außer Menelaos - nicht leibhaftig in der Trauer-Handlung. Für die schmutzige Arbeit schicken sie ihren Boten vor. Kay Krause gibt ihn als scheinbar mitleidigen Adjutanten, der nur Befehle ausführt. Doch macht er sich nicht mitschuldig?
Poseidon gehört das Schlusswort. „Ihr Narren! Menschen, die ihr glaubt man könnte Städte niederbrennen und aus Gräbern Wüsten machen, ohne selbst zugrund zu gehen.“ Wir ahnen: Die Schrecken von Troja sind die Schrecken von heute.
Was: „Die Troerinnen (Der Untergang) von Euripides und Walter Jens
Wo: Großes Haus des Stadttheaters in Bremerhaven
Wann: Weitere Aufführungen am 7., 9. (15 Uhr) und 28. März sowie 3., 5., 27. April (18 Uhr)

© Manja Herrmann
Mutter und Tochter sind verzweifelt: Hekabe (Angelika Hofstetter) und Kassandra (Julia Lindhorst-Apfelthaler) können sich gegenseitig kaum Trost spenden.
Auf einen Blick