Schwere Themen wuchtig aufbereitet
Ein fast lebensgroßer Stier empfängt die Besucher des Museums, wobei „empfangen“ das falsche Wort ist. Dieser Stier ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er seine Umgebung wahrnehmen würde. Denn er befindet sich im freien Fall, ist zu Boden gegangen und wird wahrscheinlich sterben. Sein linker Hüftknochen bleibt kein gewöhnlicher Knochen, sondern verwandelt sich im Inneren des Tieres in die Waffe eines Stierkämpfers. Wenige rote Spuren auf seinem ansonsten weiß angemalten Bronze-Körper zeugen von dieser Verletzung.
Der Künstler sieht sich als Bildner
Der stürzende Stier ist alles andere als aus der Art gefallen. Im Gegenteil: Er zeigt exemplarisch, wie es Thomas Duttenhoefer immer wieder gelingt, Form und Inhalt zu verschmelzen. „Ich schaffe mit Wachs oder Ton, Bilder für den Raum“, sagt der 75-Jährige. „Eigentlich bin ich kein Bildhauer im klassischen Sinne, sondern ich sehe mich mehr - ein schönes altmodisches Wort - als Bildner.“ So erklärt sich auch der zunächst merkwürdig anmutende Titel der Schau: „Kein Bildhauer: Thomas Duttenhoefer“.
Dieser Nicht-Bildhauer ist in Bremen kein Unbekannter. Bereits 1997 hat er im Marcks-Haus ausgestellt. Und der Kontakt ist danach nie völlig abgerissen. Mirjam Verhey-Focke, die Kuratorin der Schau, weiß: „Wir haben Arbeiten von Duttenhoefer in unserer Sammlung.“ 36 Plastiken sowie 24 Zeichnungen und Grafiken versammelt die aktuelle Ausstellung, darunter alte, neue und noch nie gezeigte Arbeiten wie die der Seherin Kassandra. „Wir haben Themenfelder herausgesucht, die nicht so bekannt sind“, sagt Verhey-Focke. „Das war ihre Idee“, lobt der Künstler. „Der Kurator ist derjenige, der - ähnlich wie der Musiker die Kompositionen - die Werke erst zum Klingen bringt.“
In der Schau entstehen Sichtachsen
In der Ausstellung ist - um im Bild zu bleiben - tatsächlich viel Musik drin. Da entstehen Sichtachsen, korrespondiert das Haar der „Medusa“ mit dem Schwanz von „Pan“, die „Kreuznacher Figur“ mit der „Figur und Konstruktion“. Da steht den Szenen aus dem Pflegeheim die Skulptur von „Philemon und Baucis“ gegenüber, jenem Liebespaar aus der griechischen Mythologie, das sich von Zeus wünschte, gemeinsam zu sterben und die er in eine Linde und eine Eiche verwandelte. „Ein wunderbares Thema“, findet der Künstler. „Hier konnte ich in der Einheit der Form die Zweisamkeit zeigen.“
Doch auch jede einzelne Figur oder Figurengruppe kommt zu ihrem Recht, darf sich entfalten. „Seine Arbeiten sind erzählerisch, sie machen es einem leicht, sie zu inszenieren“, findet Verhey-Focke, die die Porträts, Torsi, mythischen Wesen, die Tiere und Leidenden in thematischen Gruppen gebündelt hat, die er in Ton, Gips und Wachs formte. Und immer wenn er es sich leisten konnte, gießen ließ - vorzugsweise in Bronze, aber auch in Eisen.
Nur die Figur aus dem Jahr 1972 fällt völlig aus dem Rahmen. Es handelt sich um eine abstrakte Stele mit drei vertikalen Unterteilungen, die Knie, Becken und Kopf andeuten. „Der junge Hirsch“, so Duttenhoefer über Duttenhoefer, ließ sich anfangs vom Zeitgeist beeinflussen. Im Gegensatz von vielen Kollegen, die sich von der Figur ab und zur Abstraktion hin wandten, ging er den umgekehrten Weg, wurde so zu einem der bedeutendsten figurativen Bildhauer seiner Generation.
Erfahrungen im Altenheim gesammelt
Ein Grundthema fast überall: Die Versehrtheit des Lebens. „Mit Krankheit und Tod“, so ist ein Raum überschrieben, war Duttenhoefer schon früh konfrontiert. Während seines Zivildienstes arbeitete er in einem Altenheim und hielt später mit dem Zeichenstift die Alten und Kranken fest. „Das war meine Menschenakademie“, sagt er schlicht. Und er besuchte über mehrere Wochen einen Schlachthof in Wiesbaden. Seine Radierungen erzählen zwar vom Tod, aber wichtiger als das Elend war für den jungen Mann das Studium der Anatomie, dort lernte er seine bildnerische Grammatik, der er bis heute folgt. Bei seinem „Zerberus“ bildet der Schwanz eine Diagonale mit einem der Köpfe.
Die Erfahrungen im Altenheim und Schlachthof prägen bis heute sein Werk. Nicht nur sein Stier kämpft gegen den Tod an. Seine Figuren stehen für existenzielle Erfahrungen wie die mit Narben und Tüchern bedeckten Ton-Torsi zeigen, die erst 2022 in Eisen gegossen wurden. Wir begegnen in der Ausstellung sowohl mythischen Wesen wie Kassandra, Pan und dem Minotaurus als auch realen Figuren des öffentlichen Lebens wie dem Staatsanwalt Fritz Bauer und dem Schauspieler Mario Adolf. Von dem schwärmt der Künstler noch heute.
Mario Adolf hätte er sicher nicht die Zunge herausgestreckt. Wer den Künstler so wütend machte, erfahren wir nicht. Sein Selbstporträt von 2019 ist allerdings ein Beispiel dafür, dass der Künstler auch witzig sein kann und nicht immer die schweren Themen beackert.

© Sandra Beckefeldt
Der „Stürzende Stier“ (1992) reckt die Hinterbeine in die Luft, sein Bronze-Körper ist mit weißer Farbe bemalt.
Auf einen Blick
Was: „Kein Bildhauer: Thomas Duttenhoefer“
Wo: Gerhard-Marcks-Haus, Am Wall 208 in Bremen
Wann: Bis zum 1. Juni. Die Schau ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr zu sehen, donnerstags bis 21 Uhr

© Sandra Beckefeldt/Museum
Von dem Schauspieler Mario Adorf, der dem Künstler 2016 Modell stand, ist der Künstler noch heute beeindruckt.