Wenn die Gestapo zur Witzfigur wird
Wo sind wir nur gelandet? Wir befinden uns gleich zu Beginn des Stücks im Gestapo-Hauptquartier, als der junge Wilhelm Kunze (sehr gut Kinderdarsteller Laurenz K. Koch) zum Verhör gerufen wird. Er soll seinen Vater verraten. Doch plötzlich schallt ein Ruf durch die Räume: Der Führer selbst ist im Hauptquartier. Er kommt rein – von überall erklingt „Heil Führer“ – und ruft „Ich heil mich selbst“. Für die Persiflage auf Hitler gibt es die ersten Lacher für Kay Krause.

© Heiko Sandelmann
Geschafft: Die Liste mit den Namen der Widerstandskämpfer fliegt als Konfetti durch die Luft. Die Nazis haben sie nicht erhalten, dank der Schauspieltruppe mit (v. li.) Marsha B. Zimmermann (Anna), Laurenz Konstantin Koch (junger Grünberg), Julia Lindhorst-Apfelthaler (Maria Tura), Alexander Smirzitz (Dowasz), Frank Auerbach (Rowicz), Marc Vinzing (Stanislaw Sobinsky).
Doch Stopp, das ist der falsche Text. Hier endet das Spiel im Spiel: Wir befinden uns nicht bei der Gestapo, sondern 1939 im Warschauer Polski-Theater, das das Stück „Ein Geschenk vom Führer“ einstudiert, und erleben, wie der polnische Jude Grünberg (Kay Krause) den Führer gibt. Das Stück, eine antifaschistische Satire, soll „Hamlet“ ablösen.
Berühmten Film erst im Jahr 2008 fürs Theater adaptiert
Das Stadttheater hat sich mit der Aufführung von „Sein oder Nichtsein“ keine leichte Aufgabe gewählt. Vorlage ist der weltberühmte Film von 1942. Noch während der Nazi-Diktatur zeigte Ernst Lubitsch, dass Theater und Humor selbst im Angesicht von Terror eine starke Waffe sind. Lubitschs Können bestand darin, Witze über Tyrannen zu machen, nicht über Opfer. Erst 2008 hat der Brite Nick Whitby das Drehbuch für das Theater adaptiert.
Wie spielt man Schauspieler, die um ihr Leben spielen?
Doch wie spielt man mehr als 80 Jahre nach Lubitschs Film die Komödie über eine Theatergruppe, die angesichts des Terrors zur Höchstform aufläuft?

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Die Weltkugel als Spielball: Hening Z Bäcker (links) spielt den Schauspieler Josef Tura, der sich als Gestapo-Gruppenführer Erhardt ausgibt, um Prof. Silewski (Martin Kemner) zu täuschen. Im Hintergrund Kay Krause als Grünberg und Alexander Smirzitz als Dowasz.
Am besten natürlich, indem man selbst in Höchstform spielt – und das ist dem Bremerhavener Ensemble eindeutig gelungen. Da passen Tempo, Witz und Timing, da gelingen die schnellen Rollenwechsel. Unglaublich, was für eine Leistung ausnahmslos alle abliefern. Allen voran Henning Z Bäcker als Josef Tura. Ein eitler Hamlet-Schauspieler, der fassungslos ist, als inmitten seines Sein-oder-Nichtsein-Dialogs ein Zuschauer in der vierten Reihe den Saal verlässt (schöne Idee, dass Marc Vinzing als Zuschauer sich tatsächlich aus der vierten Reihe durchs Bremerhavener Publikum kämpft). Bäcker wechselt genial vom polnischen Schauspieler zum Hitler-Spion und weiter zum Gestapo-Führer und Innenminister Piotrowski. Marc Vinzing überzeugt als naiv-verliebter Bomber-Pilot und ebenfalls als Gestapo-Gruppenführer Erhardt, genannt Konzentrationslager-Erhardt. Ein Mann mit der Figur von Göring und Sprachfehler. Julia Lindhorst-Apfelthaler ist die schöne Maria Tura, eine Femme fatale, die mit roten Locken den Männern den Kopf verdreht, ihren aber auch bei der Gestapo behält. Nur die Nazi-Lügen bringt sie nicht ohne Würgen über die Lippen. Eine Glanzleistung. Alle überzeugen in ihren Rollen: Alexander Smirzitz als polnischer Regisseur, Frank Auerbach und Kay Krause als abgeklärte Schauspieler, Marsha B Zimmermann als pragmatische Garderobiere und Martin Kemner als lispelnder Nazi-Spion Silewski.

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Grandios Julia Lindhorst-Apfelthaler als Schauspielerin Maria Tura und Marsha B Zimmermann als ihre Garderobiere Anna. Laurenz Konstantin Koch spielt den jungen Grünberg, an der Jacke den gelben Kreis in Anlehnung an den Judenstern.
Hitler-Gruß wird im Stück zum Schlag an die Stirn
Doch stimmt auch die Inszenierung? Witze über Hitler sind ja kein Tabu mehr. Da braucht es schon mehr. Regisseurin Johanna Schall hat gute komödiantische Einfälle. Bei ihr mutiert der Hitlergruß zum Schlag auf die Stirn oder besser aufs Hirn, bevor die Hand sich hebt. Schön auch, wie alle Schauspieler synchron ausspucken, wenn der polnische Nationalsozialist Piotrowski erwähnt wird. Hitlers Name fällt übrigens kein einziges Mal, stets ist nur vom Führer die Rede, auch Nazi-Symbole sind keine zu sehen. Die Uniformen sind schlicht schwarz, während Kostümbildnerin Jenny Schall die Polski-Truppe in warmes Orange, Gelb, Rot und Braun kleidet. Sven Hansen hat für die Turbulenzen ein ruhiges Bühnenbild geschaffen, ein Theater im Theater, das sich schnell verwandeln lässt.
Balance zwischen Lachen und Entsetzen als größte Herausforderung
Bei Lubtischs „Sein oder Nichtsein“ lauert hinter jedem Witz der Abgrund. Und auch heute funktioniert der Humor nur, wenn die historische Dimension des Grauens ernst genommen wird. Schall hat sich im zweiten Teil jedoch entschieden, die Figuren ins Groteske zu ziehen, sie zu überzeichnen und damit den Abgrund zu vergessen. Da wird die Komödie zum Klamauk, wenn auch hervorragend gespielt.
Beklemmende Stille, als Grünberg verhaftet wird
Ein paar Szenen, die die Ernsthaftigkeit deutlich machen, gibt es. „Es ist Krieg“: Als die Nachricht die polnischen Schauspieler – und das Bremerhavener Publikum – erreicht, herrscht Stille. Krieg, das kennt Europa wieder. Auch als Grünberg verhaftet wird, kommt Beklemmung auf. Zum Schluss ist er in KZ-Kleidung zu sehen, während die anderen bereits in Amerika auftreten.
Fehlt etwas? Plumpe Anspielungen auf heutige Machthaber verbieten sich, kommen zum Glück auch nicht vor. Aber ein paar intelligente? Die Regisseurin hat sich entschieden, keine aktuellen Bezüge einzubauen, mal abgesehen von ein paar Songs wie „Sexual Healing“. Was „Sein oder Nichtsein“ für heutige Zeiten zu sagen, hat, muss jeder für sich herausfinden.
Das Stadttheater Bremerhaven zeigt die Komödie „Sein oder Nichtsein“ von Nick Whitby, nach dem Film aus dem Jahr 1942 von Ernst Lubitsch. Die nächsten Termine sind am 28. September, um 18 Uhr, 5. Oktober, um 15 Uhr, 10., 18., 23. und 26. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr. Es gibt weitere Termine bis 19. Dezember. Karten ab 21,25 Euro unter stadttheaterbremerhaven.de oder 0471/49001.
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