Premiere in Bremerhaven: In „Der Vorfall“ treffen Opfer und Täter aufeinander

Premiere in Bremerhaven: In „Der Vorfall“ treffen Opfer und Täter aufeinander

Alle zerren an ihr. Die eine nimmt ihr linke, die andere ihre rechte Hand. Ihr Mann berührt sie an den Schultern, der Täter nähert sich von hinten. Nur was will Sandra? Das ist die Frage, die in dem Stück „Der Vorfall“ im Großen Haus verhandelt wird.

Der Gerichtsprozess im Wohnzimmer

Premiere in Bremerhaven: In Deirdre Kinahans „Der Vorfall“ treffen Opfer und Täter aufeinander

Der titelgebende Vorfall, eine Vergewaltigung, liegt schon Jahrzehnte zurück. Damals war Sandra noch eine junge Studentin in Dublin. Auf einer Party ist es dann passiert. Als sie fast 20 Jahre später ihr Elternhaus verkaufen will, trifft sie unverhofft einen der Täter wieder. Und durchlebt das Trauma noch einmal neu.

Vordergründig passiert in dem neunzigminütigen Kammerspiel der irischen Autorin Deirdre Kinahan nicht viel. Fünf Personen treffen sich in einem Wohnzimmer, das in den 70er Jahren vielleicht einmal modern war, jetzt allerdings mit seinem qualmenden Kamin eher trostlos wirkt (Ausstattung: Frank Albert).

In dieser Zeitkapsel findet die Wieder-Begegnung von Opfer und Täter statt. Regisseurin Christina Gegenbauer macht daraus ein konzentriertes Psychodrama, in dem wir als Zuschauer sogar in Sandras Kopf hineingucken können. In kurzen Schwarz-Weiß-Videos, untermalt von dramatischen Klängen (Musik: Nikolaj Efendi) flackert ein geometrisches Spinnennetz auf, in dessen Mitte Sandras Kopf gefangen ist - ein treffendes Bild dafür, dass Sandra sich eigentlich nicht erinnern will. Sie hat die Tat verdrängt, lebt scheinbar mit ihrer Familie ein ganz normales Leben. Doch nun eitert die Wunde von damals erneut, sie muss sich ihren Verletzungen stellen. Und fordert, dass sich der Täter zu seiner schrecklichen Tat bekennt.

Fast wie eine Gerichtsverhandlung

Gebaut ist dieses Drama fast wie eine Gerichtsverhandlung. Nur bleibt unklar, ob das Geschehen real passiert oder sich die Zimmerschlacht in der Imagination, in Sandras Vorstellung, abspielt. Die Verfremdungseffekte, die Regisseurin Gegenbauer immer wieder einstreut, deuten darauf hin, dass Sandra ein schrecklicher Alptraum plagt.

Der Ort der Handlung ist während des gesamten Geschehens derselbe. Die Figuren agieren fast wie in einem Prozess, zuallererst natürlich das Opfer Sandra, der Täter Larry, seine Ehefrau Linda, die sich zur Verteidigerin ihres Mannes aufschwingt, Sandras Ehemann Ray, der wie ein Richter alle Fakten sammelt. Nur Dairne (Ulrike Fischer) bleibt außen vor, sie, die Außenseiterin, die Transfrau, steht am entschiedensten ihrer Freundin zur Seite.

Sandra muss ein zweites Mal erfahren, dass sie die Kontrolle verliert, dass andere deuten, was damals in dieser Nacht geschehen ist. Alle haben gute Gründe für ihr Handeln. Die Enttäuschung Rays (ein fürsorglicher Ehemann: Henning Bäcker), dass seine Frau ihm nichts von der Vergewaltigung erzählt hat, ist ebenso nachvollziehbar wie Lindas Angst um das Ansehen ihrer Familie. Der Nachteil dieser Versuchsanordnung: die Figuren entwickeln sich kaum, es fehlen überraschende Wendungen.

Hier ringt eine Frau um ihre Würde

Marsha Zimmermanns Sandra steht anfangs völlig neben sich, sie sieht aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie schlingt, um sich zu schützen, die Arme um ihren Körper. Und hat auf die einfachsten Fragen keine Antworten. Doch nach und nach löst sie sich aus dieser Starre, wird fordernder, drängender. Hier ringt eine Frau um ihre Würde, weil sie es muss. Um jeden Preis.

Denn Larry streitet zunächst alles ab, gibt vor, Sandra nicht zu kennen, erst am Ende ringt er sich eine halbherzige Entschuldigung ab. Ist dieser Larry ein selbstgewisses Arschloch oder ein unsicherer Mann, der mit seiner Tat seine Freunde beeindrucken wollte? Marc Vinzing hält das bewusst in der Schwebe. Das ist gut so, denn auch im realen Leben sind Vergewaltiger keine Monster mit einem Zeichen auf der Stirn.

Sandra fällt es schwer, über die Vergewaltigung zu sprechen. Sie stockt, redet anfangs drumherum, bis sie sich ihrer Freundin anvertraut: „Ich habe oft … ich habe oft gedacht … ich habe oft geträumt. Von ihnen geträumt … die Gesichter gesehen … sein Gesicht … und die Musik gehört … sehr oft. Aber das hier ist anders. Oh Gott, ist das anders. Er ist hier … er ist es … ich bin sicher. Er ist einer von ihnen und er ist im Wohnzimmer. Mamas Wohnzimmer. Papas Wohnzimmer.“

Sandra kämpft einen einsamen Kampf

Sandra sucht kein Mitgefühl, sie sucht Gerechtigkeit. Wenn sie erzählt, wirkt es oft so, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Marsha Zimmermann sieht oft starr geradeaus, spricht direkt zum Publikum. Sie kämpft einen einsamen Kampf.

Die stärkste Szene des Abends gehört allerdings nicht Marsha Zimmermann, sondern Julia Lindhorst-Apfelthaler, die anfangs ihren Mann verteidigt, sich dann aber in eine Wutrede gegen die Männer hineinsteigert. Sie traut ihnen alles zu - die Frauen müssen es dann immer alles ausbaden, klagt sie.

Obwohl der Abend durchaus Rhythmus und Spannung hat, geht er nicht so unter die Haut wie vor einer Woche „Tom auf dem Lande“ im Kleinen Haus. Vielleicht ist das Große Haus einfach zu groß für dieses Kammerspiel oder die Geschichte zu vorhersehbar. Nur eines ist klar: Das Thema gehört auf jeden Fall auf die Bühne.

Dairne (Ulrike Fischer, rechts) ist die Einzige, die von Anfang an zu Sandra (Marsha Zimmermann) hält.

© Heiko Sandelmann

Dairne (Ulrike Fischer, rechts) ist die Einzige, die von Anfang an zu Sandra (Marsha Zimmermann) hält.

Auf einen Blick

Was: Deirdre Kinahan: „Der Vorfall“, deutsch von Boris Motzki in einer Bearbeitung von Peter Hilton Fliegel

Wo: Großes Haus des Stadttheaters Bremerhaven

Wann: Weitere Aufführungen am 22. Februar, 3., 8. und 21. März, 27. April, 3. und 17. Mai.

Karten: Zwischen 13,50 und 24,50 Euro unter 0471/49001

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Erstellt:
18.02.2024, 16:06 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 35sec

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