Schau in Hamburg im Bucerius Kunst Forum präsentiert Henri Cartier-Bresson

Schau in Hamburg im Bucerius Kunst Forum präsentiert Henri Cartier-Bresson

Fast wie ein Stummfilm: Ein Mann springt über eine Pfütze, in der sich seine Silhouette spiegelt. Henri Cartier-Bresson hat nicht nur hier das Leben auf frischer Tat ertappt, wie er es nannte. Eine Hamburger Schau zeigt viele solcher Momentaufnahmen.

Das Auge des 20. Jahrhunderts

Schau in Hamburg im Bucerius Kunst Forum zeigt die Vielseitigkeit von Henri Cartier-Bresson

Die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum, die erste große Retrospektive seit 20 Jahren in Deutschland, zeigt allerdings noch viel mehr, stellt mit 240 Aufnahmen die ganze Vielseitigkeit des legendären Fotografen Henri Cartier-Bresson (1908-2004) heraus. Nicht nur poetische Schnappschüsse waren sein Ding, sondern auch Porträts und knallharte Reportagen. Denn er war fast überall auf der Welt, wo es gerade brannte.

Sich selbst beschrieb er als Nervenbündel - allerdings eines, das immer „den richtigen Moment abwarten“ konnte. Der amerikanische Schriftsteller Truman Capote verglich ihn mit einer aufgeregten Libelle. Sein Biograf formulierte es so: „Er war nie still, nie ruhig. Er war ständig auf der Flucht: vor der Religion seiner Vorfahren, vor dem geplanten Studium, vor der Fabrik seines Vaters, vor dem Haus der Familie, vor dem Kriegsgefangenenlager, vor den Fallen des Ruhms und vor der Fotografie.“

Ein Glück für uns, dass sich Henri Cartier-Bresson erst 1974 von der Kamera trennte, die vorher seine ständige Begleiterin gewesen war. Und die er - jedenfalls geht so die Legende - bis dahin nur morgens im Badezimmer abgelegt hatte.

An seiner Wiege war ihm nicht gesungen worden, dass er einmal der bedeutendste Fotograf des 20. Jahrhunderts werden würde, der die „Bibel“ für alle Nachfolger schrieb.

1908 als ältestes Kind einer wohlhabenden Familie geboren, sollte er eigentlich die Textilfabrik seines Vaters übernehmen, er selbst wollte Maler werden. Doch als er 1931 in einer Zeitschrift ein Foto des Ungarn Martin Munkácsi entdeckte, der spielende Kinder an einem See in Afrika abgelichtet hatte, warf er alle Pläne über den Haufen. „Ich verstand plötzlich, dass die Fotografie die Ewigkeit in einem Augenblick festhalten kann. In diesem Bild steckt eine solche Intensität, eine solche Spontaneität, eine solche Lebensfreude, ein solches Wunder, dass es mich auch heute noch umhaut.“

Henri Cartier-Bressons Fotografien erzählen eine Geschichte

Solche Wunder schuf Cartier-Bresson bald selber. Gleich zu Anfang in den 30er Jahren dieses Foto mit dem Mann, der hinter dem Bahnhof Saint-Lazare über eine Wasserlache springt. Diese Aufnahme hat bereits alles, was die späteren Arbeiten des Franzosen prägen sollte: die Poesie des Flüchtigen. Und seine Bilder erzählen immer eine Geschichte. Henri Cartier-Bresson, der mit fast 96 Jahren 2004 starb, war so etwas wie das Auge des 20. Jahrhunderts. Rastlos reiste er durch die Welt, dabei immer auf der Suche nach dem „intuitiven Schuss“. So drückte er 1937 bei der Krönung des britischen Königs George VI. in London ebenso auf den Auslöser wie 1944 bei der Befreiung von Paris, war 1945 und 1962 in Deutschland unterwegs, interviewte Gandhi kurz vor seinem Tod, fotografierte 1948 die Beisetzung des Hinduführers, 1948 das Ende der Kuomintang-Herrschaft in China, Russland nach dem Tode Stalins 1954, Kuba nach der Raketen-Krise 1963 und, und, und. Er interessierte sich sowohl für die Technisierung der Arbeitswelt als auch für Freizeitvergnügen. Und es darf immer auch gelacht werden, wenn ein Arbeiter fast in einer Maschine verschwindet oder skeptische Bäuerinnen die Rede Charles de Gaulles verfolgen.

Als junger Mann ließ er sich von Surrealisten inspirieren

Gar nicht so einfach, bei der Fülle den Überblick zu behalten - zumal Kurator Ulrich Pohlmann mehr auf thematische Schwerpunkte setzt als auf reine Chronologie. Als junger Mann ließ sich Cartier von den Surrealisten inspirieren, verzerrte alltägliche Motive wie Kadaver auf dem Schlachthof so, dass sie eigentlich nicht mehr zu erkennen sind. Und er entdeckte die Schönheit von Schaufensterpuppen.

Manchmal verfremdete er die Motive durch die Perspektive oder den Bildausschnitt. Die Komposition war ihm immer enorm wichtig, er suchte nach perfekten Proportionen. Und wartete geduldig, bis die Menschen ins Bild kamen wie die spielenden Kinder in Sevilla.

Dabei immer um seinen Hals, die Leica, von der er meinte, sie sei „wie ein dicker, heißer Kuss“. Ihr großer Vorteil: Sie war klein und handlich. So konnte er unbemerkt auf den Auslöser drücken. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: „Wir Fotografen sind Diebe, aber wir stehlen, um zu geben.“ Die Londoner, die im Mai 1937 auf der Straße die Krönung Georgs VI. feiern, bemerkten ihn kaum, diesen Dieb. Dessen Augenmerk sich nicht auf den Monarchen richtete, sondern auf die Passanten, die einen Blick auf den König erhaschen wollten und dabei mit allerlei optischen Hilfsmitteln hantierten.

Belichtungsautomatik war nicht sein Ding

Technischer Schnickschnack wie Autofokus oder Belichtungsautomatiken waren dem Mitbegründer der legendären Fotoagentur Magnum zuwider. „Die Fotozelle ist überflüssig: Sie fördert die Faulheit des Auges; man muss den Wert erst selbst erraten und kann ihn später eventuell prüfen.“

Was sich indes gut in dieser Schau überprüfen lässt, einem fast auf allen Bildern anspringt, ist der tiefe Humanismus, der seine Bilder prägt. Das Herz dieses Fotografen mit Haltung schlägt für die Armen. So weckt ein Obdachloser, aufgenommen 1930 vor einer Plakatwand, unser Mitgefühl. Und wir freuen uns mit den französischen Arbeitern, die 1938 endlich Urlaubsgeld bekommen und nun am Ufer der Seine kampieren.

Cartier-Bresson verstand sich nicht als politischen Fotografen, obwohl er zeitweise mit den Kommunisten sympathisierte. „Ich habe weder eine ,Botschaft‘ noch eine ,Mission‘. Ich habe einen ,Standpunkt‘.“ Der ist indes manchmal eindeutig. Im Spanischen Bürgerkrieg ergriff er Partei für die Republikaner ebenso wie für die Partisanen im besetzten Frankreich. Doch als er in Stalins Russland und in Maos China unterwegs war, versuchte er ein möglichst unverfälschtes Bild des Alltags einzufangen. Wir sehen Männer, die die Zeitung lesen und gleichzeitig einen Kinderwagen schieben, tanzende Arbeiterinnen und Fahne schwenkende Partei-Soldaten. Ob in Kuba, Neapel oder den USA - immer stehen die Menschen im Mittelpunkt: ihr Leid, ihre Ängste, ihre Hoffnungen.

Französischer Meisterfotograf besuchte 1962 Westberlin

Auch in Westberlin, der Frontstadt des Kalten Krieges. Ein Jahr nach dem Mauerbau beobachtet er 1962 drei Männer, die auf einem Verteilerkasten stehend gen Osten schauen. Was sie genau sehen, bleibt unserem Blick verborgen. Nehmen sie Kontakt mit ihren Angehörigen auf? Der Meisterfotograf registrierte auch, dass ein bisschen Leichtigkeit nach Berlin zurückgekehrt war.

Doch Deutschland war nur eines von vielen, vielen Ländern, die er bereiste. So beobachtete er die Proteste der Schwarzen in den USA, bekam sowohl Malcolm X als auch Martin Luther King Jr. vor seine Kamera. Bei den Porträts wartete er ebenfalls auf den „entscheidenden Augenblick“, der den Charakter des Künstlers oder des Prominenten einfängt. „Wenn ich ein Porträt aufnehme, setze ich mein Modell nicht hin, sondern beobachte es und drücke den Auslöser in dem Moment, in dem sich plötzlich sein Charakter zeigt.“ Der zeigt sich bei Alberto Giacometti im Atelier, bei Simone de Beauvoir und Sartre in den Pariser Straßen, bei Henri Matisse mit den Tauben in seinem Zuhause.

Über Bilder, so lautet das Credo des Meisters, sollte man nicht viele Worte machen. „Über Fotografie gibt es nichts zu sagen, man muss hinsehen.“ Getreu dem Motto der Schau „Watch. Watch. Watch.“ Schauen, schauen, schauen. Und zu gucken gibt es in dieser Ausstellung mehr als reichlich. Nur ausreichend Zeit sollte man sich nehmen. Denn, so Cartier-Bresson: „Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut.“

Die Poesie des Flüchtigen faszinierte den Meisterfotografen schon als junger Mann. Wir sehen einen Mann, der über eine Wasserlache springt. Ob sein Fuß gleich im Wasser landen wird, bleibt unserer Fantasie überlassen.

© Henri Cartier-Bresson

Die Poesie des Flüchtigen faszinierte den Meisterfotografen schon als junger Mann. Wir sehen einen Mann, der über eine Wasserlache springt. Ob sein Fuß gleich im Wasser landen wird, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Der kauzige Meister war selbst so kamerascheu, dass es schon mal vorkam, dass er Kollegen Prügel androhte, wenn sie ihn fotografieren wollten. Vielleicht hat er 1988 nicht bemerkt, dass er abgelichtet wurde.

© dpa

Der kauzige Meister war selbst so kamerascheu, dass es schon mal vorkam, dass er Kollegen Prügel androhte, wenn sie ihn fotografieren wollten. Vielleicht hat er 1988 nicht bemerkt, dass er abgelichtet wurde.

Auf einen Blick

Was: „Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson

Wo: Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12 in Hamburg

Wann: Bis zum 22. September. Die Schau ist täglich von 11 bis 19 Uhr zu sehen, donnerstags bis 21 Uhr

Henri Matisse ist nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Taubenfreund.

© Henri Cartier-Bresson

Henri Matisse ist nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Taubenfreund.

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Erstellt:
22.06.2024, 09:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 51sec

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