An jeder Ecke lauert die Gefahr
Irgendwo im Nirgendwo auf dem platten Land. Wo genau die Geschichte spielt, ist eigentlich egal, auch wenn aufgeklärte Zeitgenossen meinen, der Konflikt, den der kanadische Dramatiker Michel Marc Bouchard in seinem Psychothriller „Tom auf dem Lande“ ausmalt, sei eigentlich Schnee von gestern. Stimmt nicht so ganz. „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ - der Titel, den Rosa von Praunheim 1970 für seinen Film wählte, trifft heute noch immer zu - vielleicht beschreibt er nicht mehr die Lage von Schwulen und Lesben, aber die von Transmenschen und all denjenigen, die sich nicht auf ein Geschlecht festlegen wollen. Ausgrenzung und Abwehr sind immer noch an der Tagesordnung - ganz so wie in diesem Stück aus dem Jahr 2010.
An jeder Ecke scheint in diesem Kammerspiel Gefahr zu lauern, auch wenn anfangs der romantische Song und die Videos von Gräsern im Wind eine freundlichere Welt vorgaukeln. Heiles Landleben war gestern, heute will hier keiner mehr leben. „Die Bauernhöfe sind jetzt fast alle verlassen. Siehst du, da, die aufgereihten Häuser alle, die stehen leer.“ Die Aufführung lässt den Ort des Geschehens im Ungefähren. Nur die Overalls (Kostüme: Viola Schütze) arbeiten mit Hinweisen aufs Landleben.
Autoreifen dienen als Bett und als Sarg
Die Autoreifen, die sich in der trostlosen Wellblech-Hütte stapeln und die in der Realität die Planen der Feldmieten beschweren, sind auf der Bühne vielseitig einsetzbar. Sie dienen als Sarg, als Toilettenschüssel, als Bett und als Tisch. Wenn die Aggression überhandnimmt, lassen sie sich auch mit Wucht gegen Wände schmettern.
„Der Mais ist im Oktober messerscharf“, sagt der brutale Francis einmal. Und messerscharf zeichnet der Dramatiker die Beziehungen der vier Figuren untereinander. Da blitzt selten Anteilnahme oder Fürsorge auf. Selbst Tom, der doch eigentlich aus einer anderen Welt kommt, schafft es nicht, die trauernde Mutter in den Arm zu nehmen. Einzig die Musik, die Ludger Nowak extra für die Aufführung komponiert hat, fängt die Utopie ein, träumt von Liebe, trocknet die Tränen der Verlorenen. Töne der Versöhnung.
Jeder bleibt für sich allein, durchlebt sein eigenes Unglück. Die trauernde Mutter ebenso wie der trauernde Bruder und der trauernde Partner. Sie artikulieren ihre Zweifel, Ängste, Sorgen und Nöte manchmal sogar zeitgleich. Keiner kann oder will das Gegenüber hören. Kein Wunder, dass am Schluss all die vielen Dramen mit einem großen Knall explodieren. Kein Happy End - nirgends. Nur Zerstörung.
Dichte Figurenzeichnung überzeugt
Liebe bedeutet Krieg - daran lässt der Dramatiker Bouchard keinen Zweifel - ganz egal, in welchem Verhältnis die Figuren zueinander stehen. Hauptopfer ist zunächst Tom, der Werbemensch aus der Stadt, der zur Beerdigung seines tödlich verunglückten Geliebten aufs platte Land reist.
Mit starken Bildern verdichtet Schauspieler Frank Auerbach, der für diese Inszenierung ins Regiefach gewechselt ist, die Sprachlosigkeit allenthalben. Nähe scheint nur möglich, wenn Gewalt im Spiel ist. Unglaublich dicht und konzentriert zeichnen die Schauspieler ihre Figuren. Justus Henkes Tom sucht den Schmerz und die Schläge, er ist abwechselnd verzweifelt und wütend. Karsten Zinser ist sein grausamer Gegenspieler, der unbedingt den Schein aufrechterhalten will. Isabel Zeumer gibt die verhärmte Mutter, die die Augen vor der Realität verschließt. Anna Caterina Fadda nimmt ihre kleine Rolle ebenfalls sehr ernst. Sie mischt als rosa Barbie die Trauergemeinde auf und sorgt dafür, dass die endgültig Lügengebäude einstürzen. Gänsehaut-Momente am laufenden Band. Was hier geboten wird, ist Schauspielkunst vom Aller-, Allerbesten.
Je länger Tom auf dem Hof bleibt, um so mehr sexuelle Spannung schleicht sich in die ungleichen Ringkämpfe zwischen Tom und Francis, dem Bruder des Toten, ein. Gekonnt inszeniert Auerbach dieses Wechselspiel aus Anziehung und Abstoßung, dass die Spirale der Gewalt irgendwann außer Kontrolle gerät, liegt bald im Bereich des Möglichen.
Denn Francis ist wahrlich kein netter Typ, eher ein Arschloch, das über Leichen geht. Beim Rumba tanzen allerdings wird er kurz weich. „Ich habe es so satt, dem Mais beim Wachsen zuzusehen.“ Doch der Tanz markiert nur eine kurze Pause im Kampf der beiden Männer. Gewalt und Zärtlichkeit, Leidenschaft und die Angst vor ihr scheinen untrennbare Geschwister zu sein.
Die Lüge wird zur Wahrheit. Gibt es denn kein Entrinnen? Vielleicht eines Tages, wenn wir es schaffen, einander ohne falsche Scham und ohne Vorurteile zu begegnen.

© Manja Herrmann
Tom (Justus Henke) reist zur Beerdigung seines Geliebten in die Provinz. Der Bruder des Toten (Karsten Zinser im Hintergrund) nötigt ihn, der Mutter nicht zu verraten, dass ihr Sohn schwul war.
Auf einen Blick
Was: „Tom auf dem Lande“ von Michel Marc Bouchard
Wo: Kleines Haus des Stadttheaters Bremerhaven
Wann: Weitere Aufführungen am 15. und 29. Februar, am 8. und13. März, am 12. und 26. April sowie am 2. Mai.
Am 15. Februar gibt es ein Nachgespräch mit Christain Linker, dem Geschäftsführer vom Rat&Tat-Zentrum für queeres Leben.
Karten: Zwischen 13,50 und 22,50 Euro unter 0471/49001