„Bräuche fördern Zusammenhalt“
Herr Kaminer, für Ihre neue Reihe sind Sie zum wiederholten Mal durch Deutschland gereist, um Land und Leute zu studieren …
Ich verstehe mich als einen Anthropologen der sogenannten modernen Gesellschaft. Ich finde, dass man nicht in den Dschungel am Amazonas fahren muss, um etwas Neues und Unbekanntes herauszufinden, das kann man in Deutschland ganz genauso gut und spart dabei sogar die Reisekosten. Angeregt von meinen Filmen für 3sat arbeite ich jetzt auch an einem Buchprojekt mit dem Arbeitstitel „Das geheimnisvolle Leben der Deutschen“ – das ist quasi meine Antwort auf „Das geheime Leben der Bäume“.
Ihr neuer TV-Dreiteiler rund ums Thema Brauchtum ist Teil des Jubiläumsprogramms zu 40 Jahre 3sat. Was sagen Sie zur Diskussion um die mögliche Zusammenlegung von 3sat und Arte?
Das liegt ganz im Trend. Ich glaube, dass Deutschland in den vergangenen Jahren zu schnell gewachsen ist, jetzt gibt es an allen Ecken und Enden ein Schrumpfen, einen Rückzug, auch was Kunst und Kultur betrifft. Aber ich denke, dass der Kultursender überleben wird, in der ein oder anderen Form. Es gibt ja genug Zuschauer, die nicht andauernd Dschungelcamp sehen wollen. Ich bin selber schon immer Zuschauer von 3sat gewesen, es ist ein Sender mit dem Schwerpunkt Bildung und ein bisschen Spaß, das liegt mir. Ohne den Sender würde ein Riesenloch im Programm klaffen, dann hätten wir nur noch Fernsehköche und Kuppelshows. Aber zum Glück wurde 3sat dank einer Petition, die viele Menschen unterschrieben haben, vorläufig gerettet. Deshalb hoffe ich, dass meine Reisen weitergehen. Ich schätze diese Arbeit sehr, die würde mir sehr fehlen.
In Ihrer neuen Reihe für 3sat geht es ums Thema Brauchtum. Welche Bräuche sind für Sie typisch deutsch?
Ich dachte lange Zeit, alle deutschen Bräuche laufen nach dem gleichen Muster ab: Die Menschen treffen sich, trinken Bier, ziehen sich witzige Kostüme an, krönen irgendeine Königin und gehen dann weiter saufen. Aber bei den Dreharbeiten zu der Reihe habe ich gelernt, dass es viel vielfältiger ist, vom Schuhplatteln im Süden über die Walpurgisnacht im Harz bis zum traditionellen Ringreiten im Norden. Es waren unvergessliche Momente für mich, bei denen ich ganz besonderen Menschen begegnet bin.

© Nadja Kölling/ZDF
Auch so sieht Brauchtum in Deutschland aus: nass und schlammig. Das Dreckschweinfest im Südharz.
Welches deutsche Brauchtum finden Sie besonders kurios?
Das Dreckschweinfest in Hergisdorf. Sogar wenn die Leute ihren Ort in Sachsen-Anhalt schon vor Jahren verlassen haben, kommen sie aus der ganzen Welt zu Pfingsten in ihre Heimat, um an diesem Tag zusammen mit ihren alten Nachbarn und Schulkameraden in ein Schlammloch zu springen, so eine richtig schmutzige Grütze, und auf diese Art den Winter zu vertreiben. Das finde ich einfach witzig.
Vom Karneval bis zum Oktoberfest: Wozu sind all die traditionellen Feste landauf, landab eigentlich gut?
Sie halten die Gesellschaft zusammen. Die Menschen sitzen doch heutzutage die meiste Zeit irgendwo vereinzelt in geschlossenen Räumen und bekommen im Fernsehen deprimierende Nachrichten zu sehen. Jede Möglichkeit, da mal rauszukommen und zusammen mit anderen irgendeinen Quatsch zu machen, ist unglaublich wichtig. Die Traditionen dienen dazu, dass die Menschen sich vergewissern: Wir sind nicht alleine auf der Welt, es gibt noch andere, die genauso Spaß haben wollen wie wir selbst.
Sind Sie selber froh, bei solchen Gelegenheiten gedanklichen Abstand vom Krieg Russlands gegen die Ukraine zu gewinnen?
Meine Erfahrung ist: Krieg hin oder her, das Volk tanzt und singt immer. Natürlich werde ich auch bei meinen Filmreisen oft auf das Thema angesprochen, das stört mich aber nicht. Der Krieg ist jetzt fast drei Jahre alt, und mehr oder weniger hat sich jeder eine eigene Meinung davon gebildet, er ist ein Teil unserer aktuellen Geschichte. Deshalb finde ich solche Gespräche sehr wichtig.
Sie sind in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen. Haben Sie inzwischen schon deutsche Bräuche übernommen?
Nein, eigentlich nicht. Zu Weihnachten veranstalten wir in der Volksbühne in Berlin „Kaminers Weihnachten“ für die Menschen, die nicht zu ihren Familien fahren oder keine Lust haben, gebratene Vögel zu essen – das Fest besteht aus Disco und einer Lesung. Früher hieß es „Weihnachten auf Russisch“, aber alles Russische ist den Leuten ja jetzt suspekt. Und im brandenburgischen Domizil meiner Familie laden wir im Advent das ganze Dorf ein, das ist eine schöne kleine Tradition, bei der man mit Glühwein um ein Feuer herumsteht.
Gibt es russische Bräuche, die Sie vermissen?
In meiner Jugend gab es keine Bräuche und Traditionen. Ich bin in einem atheistischen, sozialistischen Land aufgewachsen, und die sowjetische Führung hatte sich bekanntlich große Mühe gegeben, die Menschen hin und her zu schieben, zu vermischen, damit sie ihre Wurzeln vergessen, und sie waren ziemlich erfolgreich damit. Wir hatten den Tag des Sieges, das war eher was für ältere Semester, für uns Jugendliche gar nicht so interessant, uns blieb nur Silvester. Diese Tradition habe ich übernommen und lasse es auch in Berlin krachen – ohne Feuerwerk, aber mit sehr vielen Gästen und Getränken.

© Nadja Kölling/ZDF
Ein Klassiker unter den Orten, an denen in Deutschland gefeiert wird: Das Festzelt. Hier in Bayern.
Als Sie vor vielen Jahren nach Deutschland kamen, welches Brauchtum ist Ihnen da als erstes aufgefallen?
Das waren die Weihnachtsmärkte, auch wenn sie damals noch nicht so schick waren wie heute, da war noch nicht so viel geboten. Weihnachtsmärkte sind für mich sehr deutsch.
Sie sind schon oft durch Deutschland gereist. Was mögen Sie nicht an dem Land?
Ob es etwas gibt, was mir auf den Geist geht? Die Baustellen natürlich. Früher, als ich noch jung war, dachte ich: Oh wie schön, da wird ein neues Deutschland gebaut. Inzwischen weiß ich, dass das nicht so ist – kaum hört es an der einen Stelle auf, fängt es an der nächsten wieder an. Es geht einfach immer weiter.
Wladimir Kaminer kam 1967 als Sohn einer Lehrerin und eines Betriebswirts in Moskau zur Welt, er machte eine Ausbildung zum Toningenieur, studierte Dramaturgie und übersiedelte 1990 nach Ost-Berlin. Er organisierte zunächst populäre Tanzveranstaltungen und veröffentlichte 2000 den Erzählband „Russendisko“ über seine Emigration und die Anfangsjahre in Berlin – das später fürs Kino verfilmte Buch machte Wladimir Kaminer bekannt. Seitdem schreibt der 57-Jährige mit humoristischem Unterton bevorzugt über die Eigenheiten der Deutschen und seinen Alltag als Familienvater, er veröffentlicht Radio-Essays und dreht Reportagen für 3sat. Zuletzt erschien sein Buch „Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen“. Wladimir Kaminer hat zwei erwachsene Kinder, er lebt mit seiner Frau im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

© Xamax/dpa
Der Autor Wladimir Kaminer.
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