Zauberhafte Reise durch die Zeit
Das Ende ist dem Anfang bereits eingeschrieben. Die schutzlosen Körper wirken fast nackt, hineingeworfen in eine wunderschöne, zerbrechliche Welt. Sie kauern wie Föten auf dem Boden, während sie langsam zu den Klängen von Arvo Pärts „Fratres“ zum Leben erwachen. Erst einer, dann zwei, am Ende haben sich alle erhoben. Sind das schon Menschen oder noch kreatürliche Wesen?
Die Zuschauer im Großen Haus des Bremerhavener Stadttheaters sehen ihnen bei der Menschwerdung zu. Die Tänzerinnen und Tänzer vollführen kraftvolle, manchmal fast kantige Bewegungen, so, als müssten sie erst noch ausprobieren, wie sie sich den Raum erobern können. Dann registrieren sie ihr Gegenüber und erschrecken voreinander. Alfonso Palencia choreografiert das Erwachen des Bewusstseins. Dabei wirkt Arvo Pärts Stück wie eine Ouvertüre zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Die moderne Fassung von Max Richter, die im Stadttheater gespielt wird, bringt allerdings die weitschweifige Partitur des Barock-Klassikers auf den Punkt. Und wo bei Vivaldi Vogelstimmen imitiert werden, hört man nun echte Vögel zwitschern.
Ewiger Kreislauf des Lebens
Wir sehen nicht nur der Welt beim Entstehen zu, sondern auch der Natur. Frühling, Sommer, Herbst und Winter - der ewige Kreislauf des Lebens. „Die vier Jahreszeiten“ erzählen keine konkrete Geschichte, sondern malen das Verhältnis des Menschen zur Natur aus. Palencia nimmt uns mit auf eine poetische Reise durch die Zeit, bei der wir manchmal vergessen, dass der Sand durch das Stundenglas, dieses Symbol der Vergänglichkeit, unaufhörlich rieselt.
Die Wiederholung des immer Gleichen kann einfach nur schön sein - das beweist auch das Philharmonische Orchester. Die Streicher dürfen selbstverständlich funkeln, allen voran Franz Berlin. Kapellmeister Davide Perniceni spielt den vollen Klang aus, ohne die Dramatik außer Acht zu lassen: Hier lernt man Vivaldis oft als seicht geschmähte Musik wieder zu schätzen.
Da kann man sich zwischendurch auch ganz ohne Weltuntergangsstimmung verwöhnen lassen. Von den Lichtstimmungen und den mit einem Augenzwinkern gestalteten Kostümen von Rosa Ana Chanzá. Wer hätte gedacht, dass sich die aufbrechenden bunten Blütenkelche oben an den Pflanzen durch die bunten Socken der Tänzer an den Füßen symbolisieren lassen? Eine hübsche Idee, die uns kurz vergessen lässt, dass wir einer bedrohten Natur beim Werden und Vergehen zusehen.
Der Mann mit der Sanduhr
Damit wir den Ernst der Lage nicht vergessen, präsentiert uns der Ankündiger der Jahreszeiten (Arturo Lamanda Mir) immer wieder die Sanduhr. Bereits bei diesem Bild, das sich drei Mal wiederholt, fangen die Assoziationsketten an zu rattern, die von Yoko Seyamas Videos gelenkt werden. Wir staunen über diese geballte Schönheit, staunen über die Gletscher im Meer, die rasch vorbei ziehenden Wolken am Himmel, die Kirschblüten im Frühling, die Bäume und Sträucher, die sich im Wind wiegen, die farbintensive Blätter, die so aussehen als hätte sie der zeitgenössische Künstler Manfred Holtfrerich gemalt. Selbst die kahlen Bäume im Winter sind wundervoll. Das Auge bleibt immer wieder an diesen Detail-Aufnahmen hängen.
Nicht zuletzt erfreut Alfonso Palencias stilisierte Tanzsprache, die sich dieses Mal als modern und zeitgenössisch entpuppt, geschickt durch sportliche Elemente erweitert, schwierige Hebungen und Drehfiguren inbegriffen.
In jeder Sequenz formieren sich die insgesamt zwölf Tänzer immer wieder neu zu Gruppen. Der Mensch, so die These dieses Abends, braucht die Gemeinschaft, sie bietet Schutz vor der Unbill des Lebens. Nur manchmal ist es anders, im gleißenden Licht des Sommers bilden sich Paare. In einem hinreißenden Duett stehen die Frau (Melissa Panetta) und der Mann (Ming-Hung Weng) zunächst abwartend da, erst kommen sie sich näher, verlieren sich wieder, finden erneut zueinander.
Zweites Liebesduett spielt im Herbst
Im Herbst, dem zweiten Liebesduett an diesem Abend, sehen wir einen vor sich hin träumenden Mann (Arturo Lamolda Mir), der immer wieder von einem anderen (Marco Marongiu) aufgefangen wird. Im Winter dagegen bleibt eine solche Vereinigung bloßes Wunschdenken. Melissa Festa sehnt sich nach einem Geliebten. Immer wieder wird sie überwältigt von ihren Gefühlen, wischt sich über die Lippen, als sei sie gerade geküsst worden. Doch der Geliebte bleibt fern.
Nah rückt im letzten Bild der Klimawandel heran. Die Tänzerinnen und Tänzer kommen mit einem fünf Kilogramm schweren Eisblock auf die Bühne. Das Eis schmilzt, während sie tanzen. Die Blöcke bleiben an die Rampe liegen, während sie abgehen. Nur das Tropfen des Schmelzwassers ist noch zu hören.
Ob wohl wieder eine so schöne Welt entstehen wird, wenn diese hier untergegangen ist? Wir wissen es nicht. Doch wahrscheinlich wird sie nicht so schön wie dieser wundervolle Abend.
Was: „Die vier Jahreszeiten“, Tanzabend von Alfonso Palencia, mit Musik von Vivaldi (neu komponiert von Max Richter) und Arvo Pärt
Wo: Großes Haus des Stadttheaters
Wann: Weitere Aufführungen am 9. und 23. März, am 12., 18. und 26. April sowie am 26. Mai.
Karten: Zwischen 18,50 und 41,50 Euro unter 0471/49001.

© Heiko Sandelmann
Der Träumende (Ming-Hung Weng) wird im Herbst immer wieder von einem Freund oder Geliebten (Kuang-Yung Chao) aufgefangen. Bei der Premiere tanzten Arturo Lamolda Mir und Marco Marongiu.
Auf einen Blick