Turandot-Premiere am Stadttheater Bremerhaven: Wo die Zombies Charleston tanzen

Turandot-Premiere am Stadttheater Bremerhaven: Wo die Zombies Charleston tanzen

Zur Tuba tanzen Zombies Charleston. Ein grauer Mond fletscht die Zähne. Ein kriegsversehrtes Volk sucht Heil im Opiumrausch: „Turandot“-Premiere in Bremerhaven. Was da fulminant inszeniert und musiziert über die Bühne gewittert, verschlägt den Atem.

Turandots Tripp in der Opiumhöhle

Spielzeit-Eröffnung am Stadttheater Bremerhaven: Ovationen zur Premiere der Puccini-Oper

Achtung: Diese Opernproduktion zum Auftakt der Bremerhavener Spielzeit fällt unters Betäubungsmittelgesetz: Suchtgefahr. Selbst bislang Rausch-resistente „Nicht-Turandotianer“ - Puccinis lyrischer „Bohème“ näher als diesem Monumental-Werk - verfallen dem Sog dieser musikalischen, optischen und stimmlichen Überwältigung.

Das für seine psychodramatisch ausleuchtenden, spektakulären Interpretationen bekannte Regie- und Ausstattungs-Tandem Philipp Westerbarkei und Tassilo Tesche hat dem Stadttheater gemeinsam mit Generalmusikdirektor Marc Niemann, einem bis in jede kleinere Rolle exzellent singenden, markant agierenden Ensemble und dem Philharmonischen Orchester eine berauschende Eröffnungs-Premiere serviert: Opulent. Expressiv. Faszinierend im Jonglieren mit Wucht und Zartheit, Tragik und Komödiantik.

„Turandot“ - über deren unvollendetem Finale Giacomo Puccini 1924 verstarb, weshalb sein Kollege Franco Alfano das Werk klanggewaltig komplettierte - ist hier kein China-Märchen, sondern Europas Tanz auf dem Vulkan, am Vorabend des Nazi-Wahnsinns. Schimäre einer explosiven Zwischen-Zeit, nach dem Ersten, vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Raum dazu - eine schwarz-graue Opiumhöhle, ob in Berlin, Paris, Rom oder Wien.

Unter einem Riesenmond, der zu Riesenpupille und aasiger Fratze mutiert: Morphinisten.

Allesamt verzweifelte Versehrte. Zombies, bis hin zu gesichtlos grauen, mit Stahlhelmen umherspukenden Kindern. Prinzessin Turandot - hängt an der Nadel. Prinz Calaf - im Soldatenmantel wie eben zurück von den Schlachtfeldern Verduns, mit stählerner Hand-Prothese. Liù, die heldenmütige Rivalin Turandots - vor selbstbewusster Erotik knisternd, aber bildschön singend sterbend.

Minister sind schillernd-schräge, grausame Vögel

Ach, dieses Sterben - sie sind es so satt, das Gemetzel, alle in diesem Spiel von Macht und Liebe, Tod und Taumel. Vor allem die Minister: Ping, Pang, Pong. Drei schillernd-schräge queere Vögel, wie dem „Käfig voller Narren“ entsprungen. Marcin Hutek, Andrew Irwin und Ido Beit Halachmi formen prägnante Charaktere - mit skurril verspielten wie grausamen Zügen. Finstere Zeiten.

 Giacomo Puccinis letzte große dramatische Oper „Turandot“ eröffnet am Stadttheater Bremerhaven die neue Spielzeit. Als Gast zu erleben und bejubelt: Tenor Thomas Paul als Prinz Calàf, hier in die Zange genommen von den drei Ministern, Ido Beit Halachmi (Pong), Andrew Irwin (Pang) und Marcin Hutek (Ping).Foto: Heiko Sandelmann

© Sandelmann/Stadttheater

Giacomo Puccinis letzte große dramatische Oper „Turandot“ eröffnet am Stadttheater Bremerhaven die neue Spielzeit. Als Gast zu erleben und bejubelt: Tenor Thomas Paul als Prinz Calàf, hier in die Zange genommen von den drei Ministern, Ido Beit Halachmi (Pong), Andrew Irwin (Pang) und Marcin Hutek (Ping). Foto: Heiko Sandelmann

Düster beginnt‘s, düster bliebe es im Schwarz-Grau des Bühnenbilds, wäre da nicht dieser Moulin-Rouge-Glamour, die Eleganz der Art-Deco-Äthetik. Die Schluss-Apotheose - Turandots und Calafs Liebes-Duett - imitiert das Pathos der großen Stummfilm-Ära, Turandot in Asta-Nielsen-Attitüde. Aber nicht stumm, sondern furios singend, unter instrumentalem Fortissimo-Bombardement und chromatischen Chor-Seufzern. Und was für ein Chor! Samt Extra- und Kinderchor ein blendend disponierter, homogener Klangkörper von enormer Intensität - bis zum ohrenbetäubenden Schluss.

Psychedelischer Puls in Blech und Schlagwerk

Dabei beginnt alles ungewohnt leise. Zu verhaltenem Pianospiel des „Nessun-dorma“-Motivs öffnet sich der Vorhang - Turandot kauert barfüßig, zitternd, auf grüner XXL-Chaiselongue, setzt sich einen „Schuss“, ehe abrupt der scharfkantig repetierende, psychedelische Pulsschlag in Blech und Schlagwerk einsetzt.

Was Dirigent Marc Niemann und das Philharmonische Orchester aus der voluminösen, oft schwülstigen, krachenden, mal jazzig schlierenden, mal duftig-schwebenden Harmonik Puccinis an instrumentalen Klangfarben-Finessen herausmodellieren, ist traumhaft.

Doch selbst in wuchtigsten orchestralen Tutti bleibt die Dynamik noch so ausbalanciert, dass es die Singenden nicht zukleistert, sondern ihnen Raum zum Überstrahlen lässt.

Gestrahlt wird üppig. Allen voran Agnes Selma Weigands charismatische „Turandot“, technisch mühelos über alle Klippen der Partie hinweg. Ein dramatischer Sopran von heller Farbe, schneidender Schärfe in der Höhe, leuchtender Mittellage und einem schnellen, fiebrig flimmernden Vibrato von anrührend verletzlicher Brüchigkeit.

Wie die Stil-Ikonen der Stummfilm-Ära: Die lyrisch-dramatische Sopranistin Agnes Selma Weiland als Puccinis Prinzessin Turandot ist in der Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven eine verzweifelte Morphinistin ohne Erlösung.

© Sandelmann/Stadttheater

Wie die Stil-Ikonen der Stummfilm-Ära: Die lyrisch-dramatische Sopranistin Agnes Selma Weiland als Puccinis Prinzessin Turandot ist in der Inszenierung am Stadttheater Bremerhaven eine verzweifelte Morphinistin ohne Erlösung. Foto: Heiko Sandelmann

Mit betörend schimmerndem Nachtigallen-Ton, gibt Victoria Kunze ihrer „Liù“, dieser von ihrer Liebe besessenen Sklavin, die sich vor dem Selbstmord noch Calafs Küsse raubt, zur lyrisch-innigen auch eine bedrohlich-dramatische Farbe. Zwischen diesen starken Frauen: Turandots Vater Altoum und der geflüchtete Exil-König Timur - stark konturiert von Charaktertenor Jan Kristof Schliep und Bassist Ulrich Burdack. Und dann: Calaf, der Held.

Der österreichische Tenor Thomas Paul ist eine Idealbesetzung. Souverän auf die vertrackte „Nessun-dorma“-Arie mit ihrem triumphalen „Vinceró“ zusteuernd, gleißt das gefürchtete hohe „h“ makellos durch den Raum, spontan von Bravos quittiert. Von ihrer Strahlkraft abgesehen, entfaltet Pauls biegsam phrasierende, Belcanto-versierte Stimme ausdrucksvolle Wärme, besonders schön im Piano.

Ganz großes Opern-Kino. Aber: Kein Happy End. Selbst der siegreiche Calaf sinkt entseelt hin. Vorhang.

Stehend, trampelnd, Bravi rufend, huldigt das „erschlagene“ Publikum diesem Gesamtkunstwerk.

Was: „Turandot“ - Oper in drei Akten von Giacomo Puccini, vollendet von Franco Alfano.

Wo: Großes Haus des Stadttheaters Bremerhaven.

Wer: Inszenierung Philipp Westerbarkei. Musikalische Leitung Marc Niemann.
Weitere Vorstellungen: am
22. (18 Uhr), 27. September und 10., 12., 20. Oktober.

Karten: 20,50 - 45,50 Euro. Reservierung: 0471-49001 oder per Mail an: kasse@stadttheaterbremerhaven.de.

„Turandot“

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Erstellt:
15.09.2024, 17:23 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 10sec

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