Autorin erfindet sich immer neu
Die 1947 in Trier geborene Schriftstellerin setze mit ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und den „Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur“ entgegen, begründete die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am Dienstag ihre Wahl. Und sie beweist mit dieser Auszeichnung auch, was für ein gutes literarisches Näschen die Bremerhavener Jury des Jeanette-Schocken-Preises hatte, die bereits 2009 die Schriftstellerin auszeichnete, allerdings nicht für ihr Gesamtwerk, sondern für einen einzigen Text, für den vielstimmigen Roman „Shanghai, fern von wo“.
Sie bezeichnet sich als „chronische Spurwechslerin“
Mit dieser Geschichte aus unmenschlichen Zeiten startete die Prosa-Karriere der Autorin so richtig durch, die davor vor allem mit Gedichten auf sich aufmerksam gemacht hatte, auch wenn bereits Romane wie „Zweite Natur“ (1981), Essays und Theaterstücke erschienen waren. In ihrer Lyrik - nachlesbar in dem Auswahlband „Die da“ (2013) - spürt Ursula Krechel Sätzen nach, die sie nicht loslassen, „seziert“, so die Jury des Büchner-Preises, „die Versehrungen und Hoffnungen des Alltags, die Innenansichten der Klassenverhältnisse“.
Die 77-Jährige selbst bezeichnet sich als „chronische Spurwechslerin“. Und hat das in diesem Jahr mit „Sehr geehrte Frau Ministerin“ erneut bewiesen. Denn in ihrem jüngsten Werk taucht sie nicht ein in die deutsche Geschichte, sondern erzählt sehr verschachtelt und sprachmächtig von toxischer Männlichkeit und Mutterschaft.
Die ausgewiesene Theater- und Hörspielautorin, die mehrere Jahre als Dramaturgin am Theater Dortmund arbeitete, will sich nicht auf ein Genre festlegen. Ihren Prosatexten merkt man allerdings oft die Lyrikerin an, vor allem ihre Wortgewalt beeindruckt. Das ist nicht nur bei ihrem Roman „Shanghai fern von wo“ (2008) so, den die Jury zusammen mit „Landgericht“ (2012) und „Geisterbahn“ (2018) als „eine große Erzählung der Vertreibung und Verfolgung von Juden und Sinti“ beschreibt. Die Bremerhavener Preisrichter urteilten damals: „Es glückt ihr, aus Gefundenem und Erfundenen einen so lebendigen wie anrührenden Roman zu gestalten.“
Flüchtlinge wissen nichts über Shanghai
Die schillernde chinesische Metropole lag 1938 - von Wien oder Berlin aus gesehen - am Ende der Welt. Doch Shanghai war in jenen Jahren der einzige Platz auf dem Globus, an dem die vor Hitler Flüchtenden weder Pass noch Visum benötigten. Für die europäischen Juden, die eine Schiffspassage ergattert hatten, glich die asiatische Stadt einer Arche Noah, die sie in letzter Minute vor dem Vernichtungswahn der Nationalsozialisten bewahrte. Doch die Flüchtlinge wussten nichts von der Stadt, „offen für den, der Geld scheffeln wollte, und offen für den, der verhungern musste“. So urteilt Krechel über die Naivität der Emigranten.
Krechel malt mit wenigen Strichen den Alltag im feuchtheißen Klima aus, beschreibt die schäbigen Unterkünfte, die halben Zimmer, durch die „rasch ein Vorhang gezogen wurde“. Auch auf der rettenden Insel existieren Not und Elend, Hunger, Krankheiten und Unfreiheit. Die Autorin tastet sich langsam heran an die fremden Schicksale, gibt einer Handvoll Menschen ein Gesicht. Jahrzehntelang hat sie in Archiven recherchiert, hat „abgeschriebene Bänder, Manuskriptbündel, Blätter ohne Seitenzahlen, vergilbte Papiere“ durchgesehen, wie sie sagt.
Die Überlebenden sind wund an Leib und Seele
In dem vier Jahre später erschienenen „Landgericht“, mit dem sie 2012 den Deutschen Buchpreis gewann, griff Krechel ein Thema auf, das in dem Vorgänger bereits anklang: die Rückkehr der Emigranten in ihre Heimat. Mit dem Roman „Geisterbahn“ setzt die Schriftstellerin den phänomenalen Schlusspunkt ihrer Romantrilogie zur deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Dort geht es nicht um diejenigen, die es gerade noch schafften, Hitlers Vorhölle zu entkommen, sondern vor allem um die, die der Hölle der Konzentrationslager ausgesetzt waren.
Die Überlebenden sind wund an Leib und Seele. Die Erinnerung ist wie eine schwarze Glocke vor allem für die, denen die Vergangenheit hart zugesetzt hat, den Verfolgten, den Ausgegrenzten, den politisch Andersdenkenden. Doch auch die Angepassten, die Mitläufer, die Karrieristen wollen später von ihren Taten nichts mehr wissen. Sie sind allesamt Getriebene zwischen den Zeitläufen. Die promovierte Schriftstellerin erzählt von lauter geknickten Lebensläufen, die in Trier zusammenlaufen.
Was hat die Gegenwart mit der Vergangenheit zu tun? Sehr viel, wie wir in diesen klug komponierten, brillant geschriebenen Romanen lernen können - auch das ein triftiger Grund, Ursula Krechel mit dem Büchner-Preis auszuzeichnen. (dly)
Büchner-Preis
Der mit 50.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis wurde erstmals 1923 verliehen. Er ist die bedeutendste literarische Auszeichnung im deutschen Sprachraum. Ursula Krechel erhält ihn am 1. November in Darmstadt.
Namensgeber ist Schriftsteller Georg Büchner (1813-1837). Preisträger waren unter anderem Elias Canetti, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Christa Wolf, Erich Fried, Wilhelm Genazino, Felicitas Hoppe und Terézia Mora.