Vivian Greven und Paula Modersohn-Becker in einer Ausstellung in Bremen

Vivian Greven und Paula Modersohn-Becker in einer Ausstellung in Bremen

Die „Armenhäuslerin“ wundert sich. Was ist das für ein seltsames Paar in ihrer Nähe, dessen Lippen sich kaum berühren? Ob Paula Modersohn-Becker die Bilder von Vivian Greven gefallen hätten, weiß niemand. Berührungspunkte jedenfalls gibt es einige.

Den weiblichen Körper im Blick

Zwei Künstlerinnen, zwei Epochen, eine Ausstellung: Vivian Greven und Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker hat sie immer wieder gemalt und gezeichnet: Mutter Schröder, genannt „Dreebeen“, die im Armenhaus ihr Dasein fristete. Auf dem Gemälde aus dem Jahr 1907, das im Erdgeschoss des Paula Modersohn-Becker Museums die Blicke auf sich zieht, guckt die alte Frau ziemlich grimmig. Es scheint fast so, so als wollte sie eigentlich gar nicht in diesem Garten mit seinen bunten Blumen sitzen.

Malerin und Modell kannten sich zu diesem Zeitpunkt schon lange. Die Künstlerin wollte das Wesen des steinalten Mütterleins erfassen, nicht nur deren äußere Erscheinung. Sie reizte die „Merkwürdigkeit“, wie sie es nannte, dieser Frau. Und die bannte sie dann auch aufs Bild wie Otto Modersohn lobte, „ganz famos in der Farbe, in der Bildauffassung riesig merkwürdig und mit dem Pinselstiel die Oberfläche kraus, krieselig gemacht“.

Merkwürdig wirken ebenfalls die Figuren, die Vivian Greven ins Bild setzt. Sie zeigt nie den gesamten Körper, sondern immer nur Ausschnitte: Köpfe, Hände, Arme und Brüste. Diese Körper-Versatzstücke kommen weder uns noch sich wirklich nahe, selbst wenn sich zwei Lippenpaare fast berühren. Es „küssen“ sich nicht die Lippen, sondern die Formen, so als ob diese sich wie Puzzleteile verbinden wollten. Zwei angeschnittene Köpfe erinnern eher an antike Statuen als an Menschen aus Fleisch und Blut, Fragmente eines vormals idealen Menschenbildes.

Beiden Künstlerinnen geht es nicht um ein realistisches Abbild

Die Fremdheit, die diese Körperteile ausstrahlen, unterstreicht die 1985 geborene Düsseldorferin durch die glatten Oberflächen ihrer Bilder, die so ganz anders sind als der dicke Farbauftrag, den die mehr als 100 Jahre ältere Malerin so schätzte.

Obwohl beide Künstlerinnen figurativ arbeiten, geht oder ging es ihnen nie um ein realistisches Abbild. Selbst wenn Paula Modersohn-Becker Rilke oder Lee Hoetger porträtierte, erscheinen die Dargestellten oft maskenhaft, bleiben allerdings erkennbar. Vivian Greven malt keine realen Figuren, sondern Archetypen.

Bereits die Gegenüberstellung zum Auftakt beweist, wie fruchtbar es ist, die „Hausheilige“ mit zeitgenössischen Positionen zu konfrontieren, ein Konzept, das Museumsdirektor Frank Schmidt seit 2016 verfolgt. Nur von dem ursprünglichen Titel „Sommergäste“ hat er sich verabschiedet, weil die Interventionen, wie sich herausgestellt hat, nicht nur im Sommer erfolgen.

Bei Vivian Greven trägt die Mutter das Baby

„Ich bin Vivian Greven sehr dankbar, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen hat“, freut sich Schmidt, der Arbeiten der Düsseldorferin bereits 2020 in den Deichtorhallen sah und sie 2021 zum ersten Mal nach Bremen einlud. In der Schau „Berührungen“ war sie bereits mit einer Arbeit vertreten.

Im ersten Stock springen die Gemeinsamkeiten zwischen Greven und Modersohn-Becker noch stärker ins Auge. Denn da geht um ein Thema, das beide Malerinnen beschäftigte: Mutter und Kind. Ein Großformat von Greven - „Ich habe immer mehr das Bedürfnis, die Dinge zu vergrößern“ - beherrscht den Raum. Eine Mutter - wir sehen nur ihre Brüste und ihre Hände - trägt ein Baby. Lediglich die Fingerkuppen der Mutter glühen rot, sie strahlen Wärme aus. Der Rest des Bildes ist in fahlem Blaugrau gehalten. „Ich habe es gemalt, als ich hochschwanger war“, erzählt die 38-Jährige. „Ich wollte die Verschmelzung der Körper, die Präsentation neuen Lebens und dessen Schutz abstrahieren, in ein Sinnbild übertragen.“

Auf zwei Kleinformaten hat die Düsseldorferin den Vorgang des Stillens festgehalten. Wann der eine Körper aufhört und der andere anfängt, ist kaum zu unterscheiden. „Das zieht uns nah ans Objekt, lässt auf der Leinwand wenig Platz, was Vivian Greven wiederum mit Paula Modersohn-Becker verbindet“, findet Schmidt, der die Ausstellung zusammen mit der Malerin kuratierte.

Auch Paula Modersohn-Becker zeigt Mutter und Kind nackt

Paula Modersohn-Becker versuchte in einer Reihe von Zeichnungen und Gemälden - das berühmteste, die „Liegende Mutter mit Kind“ ist gerade nach New York gereist - ebenfalls herauszufinden, wie sich eine Mutter zu ihrem Kind verhält. Auch ihr geht es um die körperliche Nähe der beiden, und sie zeigt beide nackt, damals mehr als ungewöhnlich. Doch auf ihren Zeichnungen verschmelzen Mutter und Kind nicht zu einer Einheit, sondern bleiben zwei getrennte Wesen.

Noch intimer geht es einen Raum weiter zu, wo Grevens neue Werkserie - natürlich wieder Großformate - zu sehen ist. Die Arbeiten widmen sich einer sonst meist verhüllten Körperstelle, dem Schambereich. Die Bilder sind alles andere als sexuell aufgeladen, im Gegenteil. „Bei mir wird die Leinwand selbst der Körper“, findet die Künstlerin. Durch die extreme Nahsicht und die Größe wirken sie „auf tugendhafte Weise lüstern“, wie es die amerikanische Kunsthistorikerin Jamilee Lacy im Katalog formuliert.

„Der Körper ist eine der stärksten Projektionsflächen, die wir kennen und in der Fülle all dessen, was auf ihn projiziert wird, ist es eigentlich kaum möglich, ihn zu sehen“, klagt Greven. Doch sie lenkt unseren Blick immer wieder auf Details - auch im letzten Raum der Schau. In diesen berühren sich die Figuren ganz sacht selbst, so als ob sie der eigenen Körperlichkeit bewusst werden. Und ihrer Verletzlichkeit. So betont die Hand der kopflosen weiblichen Figur mit einer grazilen Geste einen roten Einschnitt, den man zunächst für eine Wunde halten könnte. Doch die Wunde blutet nicht, sie wirkt eher aseptisch. Die zurückhaltende Farbigkeit - fahles Grau sowie auf kühle Blau- und Grüntöne - unterstreicht diese ätherische Stimmung.

Die Heranwachsenden sehen unglücklich aus

Paula Modersohn-Beckers nackte Mädchen wirken verlegen, sie kreuzen die Hände vor der Brust, halten sich an einem Apfel fest oder nesteln an einer Halskette. Manchmal sehen die Heranwachsenden richtig unglücklich aus, so als fragten sie sich, wie sie bloß in diese Situation geraten seien, splitterfasernackt vor der Künstlerin zu stehen.

Dass die Worpswederin immer wieder Kinder zeichnete und malte, hatte einen einfachen Grund. Kinder, zumal kleine Mädchen, waren gegen ein kleines Entgelt relativ leicht zum Stillsitzen zu bringen. Wer hätte denn auch ablehnen können, wenn sie lockte „Ännchen Boschen kriegst ’n Groschen“ oder „Meta Meyer kriegst ’n Dreier“? Sie stellt ihre Modelle nie bloß, sondern zeigt deren Verletzlichkeit, fängt deren Persönlichkeit ein.

Zunächst modellierte sie die ernst blickenden Mädchen noch ganz naturalistisch - so wie es ihr ihr Worpsweder Lehrer Fritz Mackensen beigebracht hatte. Später fand sie ihren eigenen Stil, erprobte ihre formalen Mittel. Der Strich wurde forscher, die Kompositionen innovativer, die Formen abstrakter. „Wer es könnte“, so notierte sie, müsste die Figuren, „mit Runenschrift schreiben“. Damit meinte sie, dass sie sich aufs Wesentliche konzentrieren wollte. Oder um es mit ihren Worten zu sagen: „Die große Einfachheit in der Form, das ist etwas Wunderbares.“ Da würde Vivian Greven wohl nicht widersprechen.

Bei den Vorstudien zu dem großen Ölgemälde „Liegende Mutter mit Kind“ malt Paula Modersohn-Becker Mutter und Kind als getrennte Körper, in dieser Studie sitzt die Kleine noch aufrecht.

© Museum

Bei den Vorstudien zu dem großen Ölgemälde „Liegende Mutter mit Kind“ malt Paula Modersohn-Becker Mutter und Kind als getrennte Körper, in dieser Studie sitzt die Kleine noch aufrecht.

Malen vergleicht Vivian Greven mit Streicheln.

© Hannes von der Fecht/epd

Malen vergleicht Vivian Greven mit Streicheln.

Auf einen Blick

Was: „Vivian Greven - Paula Modersohn-Becker“

Wo: Paula Modersohn-Becker Museum in der Böttcherstraße 6-10 in Bremen

Wann: Bis zum 15. September. Die Schau ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr zu sehen

Eintritt: 10 (ermäßigt 6) Euro. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre frei

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Erstellt:
29.06.2024, 09:00 Uhr
Lesedauer: ca. 4min 34sec

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