Die Prophetin bleibt rätselhaft
Der Titel der Ausstellung in der Weserburg klingt erst einmal gut: „Utopia Now!“. Der Forderung, dass die Dinge sich hier und jetzt ändern müssen, stimmen sicher viele zu. Wer die dritte Etage des Museums betritt, den beschleichen allerdings leise Zweifel, ob der Wandel rasch vonstattengehen wird. Der aus dünnen Leuchtstoffröhren gebildete Schriftzug, der der Schau den Titel gibt und für die Ausstellung entstanden ist, fordert zwar zum Handeln auf. Doch Yael Bartana, 1970 in Israel geboren, glaubt selbst nicht mehr an einen Gegenentwurf, der die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Die roten Buchstaben kippen zur Seite, das Ausrufezeichen liegt in der Horizontalen. Keine Hoffnung, nirgends.
Wie ein Warnruf leuchtet uns da das Wort „Crisis“ entgegen. Doch die Seherin ist auch ein Schelm. Das Wort verändert sich von Zeile zu Zeile, wird zum Schrei, mutiert zur weinenden Schwester. Ist das nun ein Lichtblick oder wird alles dadurch nur noch trostloser?
Wir wissen es nicht. Die undurchsichtige Erlöserin nimmt uns nicht an die Hand. Unter der dünnen Oberfläche der Gegenwart rumoren die Bilder der Vergangenheit. Die Künstlerin, die seit zehn Jahren in Berlin und Amsterdam lebt und gerade ein Stipendium der Villa Massimo in Rom hat, triggert die Vorstellungen in unseren Köpfen. Wenn wir Deutsche Bilder von Wartenden an einem Gleis sehen, die in der nächsten Szene im Wald Zuflucht suchen, denken wir sofort an die Züge, die die Juden in die Vernichtungslager beförderten. Doch für eine dänische Kuratorin ist dieses Bild der Inbegriff von Freiheit. Die Künstlerin selbst sagt: „Was habe ich mit Eurer Schuld zu tun?“
Israelische Soldaten erobern den Reichstag in Berlin
Heiliger Freud. Da sitzen wir mit unseren Schuldgefühlen und sind bereits mittendrin in dem unheimlichen Herzstück der Ausstellung, der monumentalen, gut 40 Minuten langen Installation „Malka Germania“, hebräisch für „Königin Deutschland“. Auf drei Leinwänden sehen wir unterschiedliche Szenen, gedreht für Bartanas Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin 2021. Da schreitet eine Erlöserfigur im weißen Mantel mit einem Patronengurt um den Bauch - die Künstlerin selbst - neben einem gescheckten Esel durchs Brandenburger Tor, da fletschen Schäferhunde ihre Zähne, da scheint ein Kamel in sich selbst zu ruhen. Da erobern israelische Soldaten den Reichstag, kriechen aus Gullydeckeln hervor, laufen U-Bahn-Treppen hinauf ins Freie. Am Ende beobachten entgeisterte Badegäste am Wannsee, wie aus den Fluten Alfred Speers größenwahnsinniger Entwurf von einer Welthauptstadt Germania aus den Fluten emporsteigt. Bitte?
„Ich führe verschiedene Realitäten zusammen“, sagt die Künstlerin schlicht. Und verschiedene Erlöser-Fantasien. Yael Bartana nimmt das Vergangene - und das ist in dieser Schau oft die nationalsozialistische Geschichte -, um eine Vision der Zukunft zu entwickeln. „Pre-Enactment“ nennt sie diese Arbeitsweise.
Juden und Deutsche haben andere Träume und Alpträume
Nur so ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn nicht die Einheiten der Roten Armee Berlin eingenommen, sondern israelische Soldaten die Stadt von den Nazis befreit hätten? Die Traumata von einst suchen die Nachgeborenen immer noch heim. Juden, Israelis und Deutsche haben andere Träume und Alpträume. Diese Mehrdeutigkeit, überlagert vom Pathos, das einer Leni Riefenstahl würdig gewesen wäre, unterstreicht, wie einfach es ist, mit Bildern die Zuschauer zu manipulieren. Da kann selbst Malka nicht helfen.
Yael Bartana jedoch verhilft Totgesagten, Verbrannten, wieder zum Leben. Die Nazis verbrannten das Gemälde „Kriegskrüppel“ von Otto Dix. In dem Trickfilm „Entartete Kunst lebt“ bringt die Künstlerin die Veteranen mittels Stop-Motion zum Laufen. Während das Heer der Verwundeten wächst und wächst, ähnelt der Klang ihrer Schritte und ihrer künstlichen Gliedmaßen, Krücken und Stöcken immer mehr dem von Maschinengewehrfeuer.
Vier Engelchen zersägen das Hakenkreuz
Doch nicht verzweifeln: Es gibt ein bisschen Hoffnung. In einer Neon-Installation zersägen vier Engelchen das Hakenkreuz. In dem Musikvideo „Mir Zaynen Do!“ - der Titel ist jüdisch und lässt sich mit einem trotzigen „Wir sind da“ übersetzen -, finden zwei Gruppen zueinander, die in der Vergangenheit Gewalt erfahren haben. Die Künstlerin hat den Kammerchor der jüdischen Gemeinde in São Paulo mit afrobrasilianischem Straßenmusikern zusammengebracht, Nachfahren von geflohenen Sklaven. Am Anfang steht die 97-jährige Chorleiterin Hugueta Sendacz im schwarzen Kleid allein auf der in Nebel gehüllten Bühne und dirigiert. Wie sich die Sänger und die fantastisch kostümierten Trommler in der Theaterruine immer mehr annähern, das ist großes Kino, in Bremen uraufgeführt. So schenkt uns die Prophetin zum Abschied noch einen Lichtblick. Und ein Quantum Trost.
Was: Yael Bartana „Utopia Now!“
Wo: Weserburg, Auf dem Teerhof in Bremen
Wann: Bis zum 24. November. Die Schau ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet.
Eintritt: Erwachsene 9 (ermäßigt 5) Euro, Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren frei

© Chiazza/Weserburg
In dieser Neon-Installation von Yael Bartana zersägen vier Engel das Hakenkreuz. Ausgangspunkt für die Arbeit war eine Skizze, die Max Adolph Warburg, der Sohn des Kunsthistorikers Aby Warburg, 1930 gezeichnet hat.
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