England will im EM-Finale endlich das Trauma tilgen

England will im EM-Finale endlich das Trauma tilgen

Englands emotionaler Befreiungsschlag im EM-Halbfinale in Dortmund soll das Team um Harry Kane zum ersten Titel seit der WM 1966 tragen – erst einmal freut sich Trainer Gareth Southgate jedoch über einen der besten Abende der letzten 50 Jahre.

Das Trauma tilgen

England greift zum ersten Titel seit der WM 1966 - Vor drei Jahren schon mal nah dran

Als Erster hatte sich Jordan Pickford vor die enthemmte Menschenmenge gestellt. Beine ausgebreitet, Arme gehoben, Fäuste geballt. Dann brüllte der Torwart mit den englischen Fans um die Wette, die sich ihrer Ekstase ergaben. Selbst als das obligatorische „Sweet Caroline“ aus den Lautsprechern schepperte, übertönte die englische Anhängerschaft alles.

Wie eine Stunde vor Anpfiff ein Gewitter über dem Dortmunder Stadion losbrach, entlud sich die unbändige Freude mit Schlusspfiff über den elektrisierenden EM-Halbfinalsieg gegen die Niederlande (2:1). Wer hatte erwartet, dass England nun das flirrende Finale gegen Spanien in Berlin (Sonntag 21 Uhr/ARD und Magenta TV) bestreitet?

„Football‘s Coming Home“

Pathetisch illustrierte Harry Kane den Stolz, als der Kapitän um 22.58 Uhr demonstrativ die drei blauen Löwen auf seinem weißen Trikot küsste. „Wir haben Geschichte geschrieben! Ich bin so stolz auf alle. Es war bisher so ein schwieriges Turnier für uns“, rief der ausgewechselte Anführer im ersten Field-Interview aus.

Derweil hatte die Stadionregie die Kulthymne „Football‘s Coming Home“ aufgelegt, die einst zur Heim-EM 1996 das ständige Scheitern selbstironisch thematisierte.

Jedes Kind auf der Insel kennt diese Zeilen zum fortwährenden Schmerz, der durchs ständige Träumen bekämpft wird. „Three Lions on a shirt, Jules Rimet still gleaming. Thirty years of hurt never stopped me dreaming.“

Eine Bitte von König Charles

Damals platzten die Titelträume der „Three Lions“ im Elfmeterschießen gegen Deutschland – den entscheidenden Versuch vergab der heutige Nationaltrainer Gareth Southgate.

Nun hielt genau dieser Mann gegen Mitternacht im vierten Stock des westfälischen Freudentempels fest: „Wir haben den Leuten eine der besten Abende der letzten 50 Jahre gezeigt. Ich hoffe, sie gönnen sich ein paar Bier. Aber wir sind noch nicht am Ende. Wir haben den größten Test noch vor uns.“

Das Endspiel gegen spielstarke Iberer soll das seit der WM 1966 bestehende Verlangen erfüllen. Der britische König Charles III. übermittelte gleich eine Bitte: „Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden.“

Wind für Trainer Southgate hat sich gedreht

Vor drei Jahren hatte sich der heilige Rasen in Wembley wieder bloß zum Auffangbecken englischer Tränen verwandelt, als es im EM-Endspiel gegen Italien tragisch schiefging. Groteske Elfmeterfehlschüsse und eine fragwürdige Auswahl der Schützen brachten an jenem 11. Juli 2021 vor allem Southgate mächtig in Bedrängnis.

Eigentlich schienen seine Tage nach den uninspirierten Auftritten dieser EM in Deutschland bereits gezählt. Bierbecher flogen vor drei Wochen auf einen Fußballlehrer, der am Mittwochabend tatkräftig mitgejubelt hatte. „Wenn man etwas für sein Land tut und ein stolzer Engländer ist, dann möchte man nicht nur Kritik lesen“, beschied der 53-Jährige, dem immerhin eine gewisse Genugtuung anzumerken war.

Zur Akzeptanz muss noch eine finale Krönung

Der Teamchef spannte den Bogen über seine 2016 begonnene Amtszeit, nachdem unter seinen Vorgängern zwei Jahrzehnte lang kein Halbfinale bei EM oder WM mehr herausgesprungen war.

„Ich habe die Aufgabe übernommen, um den englischen Fußball nach vorne zu bringen und einen Titel zu gewinnen.“ Bei der WM 2018 war man Vierter geworden, bei der WM 2022 im Viertelfinale Endstation gegen Frankreich, und wer nun zwei EM-Finals dazurechnet, kommt auf eine Bilanz, die Deutschland seitdem gerne genommen hätte. Trotzdem weiß Southgate, dass es zur Akzeptanz seines Tuns noch eine finale Krönung braucht.

Glückliches Händchen bei der Einwechslung

Es ist verbürgt, dass sich der Stoiker nach dem vom Elfmeterpunkt gewonnenen Achtelfinale gegen die Schweiz mit seinem Trainerteam in Düsseldorf zwei Flaschen deutschen Wein gönnte.

Auch jetzt wirkte Southgate entspannt, als er seine Einschätzungen ohne Überschwang und Eigenlob vortrug. Sein glückliches Händchen, in der Schlussphase den Vorlagengeber Cole Palmer und Siegtorschützen Ollie Watkins zu bringen?

„Manchmal kann es so funktionieren“, antwortete er und lächelte selig. Die Koproduktion der Edeljoker mündete in der 90. Minute in die Explosion der Gefühle, die sich Kane und Co. im Grunde durch eine furiose erste Halbzeit verdienten. Seine Gemeinschaft bewegte sich so beschwingt über den Rasen wie ein Wildtier nach wochenlanger Gefangenschaft.

Eine neue Spiellaune entfaltet sich

Was in den Gruppenspielen gegen Serbien, Dänemark oder Slowenien noch so aussah, als müsste Declan Rice einen kontrollierten Stiefel herunterspielen; was im Achtelfinale gegen die Slowakei ohne den Fallrückzieher von Jude Bellingham kurz vor Ultimo in einer Blamage geendet wäre, so entfalteten sich nun in einem neuen System die großartigen Anlagen eines Phil Foden oder Bukayo Saka.

Von dieser Spiellaune schien die „Elftal“ eine Halbzeit lang schwer beeindruckt. Selbst vom Traumtor durch den Niederländer Xavi Simons (7.) ließen sich englische Comeback-Spezialisten nicht beirren, benötigten aber deutsche Hilfe für den raschen Ausgleich.

Kein Kommentar zur Elfmeter-Entscheidung

Dass Schiedsrichter Felix Zwayer im Zusammenspiel mit Videoassistent Bastian Dankert nach dem Kontakt von Denzel Dumfries gegen Kane einen Elfmeter gab, den der kurz zuvor vor Schmerzen schreiende Rekordtorjäger entschlossen zum 1:1 verwandelte (18.), beanstandete selbst ein langjähriger Southgate-Kollege.

„Als Verteidiger finde ich: Dieser Elfmeter ist eine absolute Schande“, wetterte der inzwischen als TV-Experte arbeitende Gary Neville bei ITV.

Southgate mochte zu jener Szene keine Stellung beziehen, weil er angeblich keine Zeitlupen gesehen hatte. Vielleicht wollte er einfach diesen besonderen Stimmungsumschwung genießen.

Ihr Autor

Frank Hellmann

Zum Artikel

Erstellt:
11.07.2024, 16:18 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 40sec

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen