Premiere in Bremerhaven: Monika Helfers Buch überzeugt im Stadttheater

Premiere in Bremerhaven: Monika Helfers Buch überzeugt im Stadttheater

Der einsame Hof, in dem „Die Bagage“ spielt, steht im hintersten Tal im Schatten. Er wirkt aus der Zeit gefallen. Das Bühnenbild für Monika Helfers Geschichte gleicht im Kleinen Haus einer alten Fotografie, alles in strengem Schwarz-Weiß gehalten.

Die schöne Maria - allein zu Haus

Premiere in Bremerhaven: Monika Helfers Familienaufstellung geht auf der Bühne unter die Haut

Ein Kind, abwechselnd gespielt von Carla Lou Schreuder und Calliope Josephine Villarin, sitzt auf dem schwarzen Boden und zeichnet mit weißer Kreide ein Haus. Der Blecheimer für die Wäsche ist ebenfalls schwarz, ebenso wie die Hosen, Röcke, Westen und Jacken der Figuren, die in dem kleinen Bergdorf am Rande der Welt leben. Die Hemden und Blusen hingegen leuchten strahlend weiß, ebenso wie die Wäsche an den Leinen, quer über die Bühne gespannt. Hinter diesen langen Bahnen können die Figuren verschwinden, sie symbolisieren die Enge der Verhältnisse, stehen aber auch für einen Markt oder eine Schneelandschaft.

Einleuchtendes Farbkonzept der Ausstatterin

Das überzeugende Farbkonzept von Ausstatterin Ilka Meier ergibt sich aus der Romanvorlage. In dem Text von Monika Helfer heißt es: „Meine Großmutter liebte frische Wäsche. Besonders, wenn sie weiß war. Weißer, als die der anderen. Weiß wie Wäsche in der Stadt. Die Familie war arm, aber arm aussehen sollte sie nicht.“

Die weiße Wäsche ist auch als schützende Decke gut. Die Erzählerin (Angelika Hofstetter, links) wickelt Maria (Anna Caterina Fadda) in ein solches Tuch ein.

© Manja Herrmann

Die weiße Wäsche ist auch als schützende Decke gut. Die Erzählerin (Angelika Hofstetter, links) wickelt Maria (Anna Caterina Fadda) in ein solches Tuch ein.

Die Familie - das sind neben den Eltern Maria und Josef die Kinder Katharina, Hermann, Lorenz, Walter, Irma, Sepp und Grete. Zudem treten auf ein Pfarrer, ein Bürgermeister und ein Fremder - dieses riesige Figurenarsenal stemmen in Bremerhaven drei erwachsene Schauspieler und ein Kind, ein riesiges Lob für diese Ensemble-Höchstleistung. Selbst das Kind, das wie eine Puppe mal umarmt, mal weggeschoben wird, beeindruckt. Die Tochter Grete verstummt, weil sie von ihrem Vater abgelehnt wird. Und diese verstoßene Tochter ist die Mutter von Monika Helfer, die mit „Die Bagage“ eine Art Familienaufstellung vorgenommen hat.

Karge Sätze entfalten eine enorme Wucht

Helfer begibt sich in dem Roman, der vor einigen Jahren die Bestsellerlisten stürmte, auf die Spuren ihrer Vorfahren, die aus einem kleinen Bergdorf stammen. Die österreichische Schriftstellerin erinnert sich in spröden Sätzen, die eine enorme Wucht entfalten, an eine Vergangenheit, die sie selbst gar nicht erlebt hat, die aber, so glaubt sie, ihre Familie bis heute prägt. Die Geschichte setzt im September 1914 ein, als Josef, der Mann von der schönen Maria, seinen Einberufungsbescheid erhält.

Josef kommt nur für einen kurzen Fronturlaub zurück auf den Hof. Als Maria wieder schwanger wird, wabern Gerüchte durchs Dorf. Kann das Kind von Josef sein? Oder ist es vom Bürgermeister? Oder von Georg, dem Mann aus Hannover, den Maria auf dem Markt kennengelernt und in den sie sich verliebt hat? Josef, hohlwangig und mager aus dem Krieg zurückgekehrt, wird zeit seines Lebens kein Wort mit dieser Tochter sprechen.

„Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. „Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung“, findet Monika Helfer. Die Stückfassung, von der Schauspielerin Coco Plümer kongenial erstellt, setzt die Erinnerungs-Bausteine etwas anders zusammen, mildert die schroffen Zeitsprünge der Vorlage ab, hält sich aber über weite Strecken an den Prosatext.

Angelika Hofstetter überzeugt als Erzählerin

Regisseurin Ingrid Gündisch, zum ersten Mal in Bremerhaven, lässt in ihrer überragenden, temporeichen Inszenierung die Autorin selbst auftreten. Angelika Hofstetter gibt diese Erzählerin, im Stück schlicht „Sie“ genannt. Gündisch löst immer wieder die Monologe in Dialoge auf, das Aus-der-Rolle-treten wird in der Aufführung zum Programm. Der große Bertolt Brecht hätte seine Freude daran gehabt.

Sicher auch an Angelika Hofstetter, die in allen Rollen, die sie verkörpert, glänzen kann - sogar als neunjähriger Sohn, der seine Mutter mit der Schrotflinte beschützt. Anna Caterina Fadda ist eine wunderbare Maria, die sich gegen alle Widrigkeiten - und das heißt in diesem Fall gegen alle Dorfbewohner - zur Wehr setzt. Leon Häder gibt alle wichtigen Männer in Marias Leben, den Ehemann Josef, den Fremden Georg und den schmierigen Bürgermeister, der immer nur seinen Vorteil wittert. Mit nur einer kleinen Akzentverschiebung wird er ein anderer - einfach grandios.

Die Frage, ob die schöne Maria allein zu Haus ihrem Mann treu blieb, gerät nach und nach in den Hintergrund. Ins Zentrum rückt stattdessen die Geschichte einer Frau, die sich in einer oft feindlichen Männerwelt behauptet, die sich von niemandem sagen lassen will, was sie zu tun und zu lassen hat. Und die Geschichte eines Mannes, der in den Krieg ziehen muss, ob er will oder nicht. „Wenn man diesen Wahnsinn einmal gesehen hat! Du kannst dir das gar nicht vorstellen. Alle im Feld wollen immer ins Lazarett. Aber jeder, der dort ist, will lieber zurück ins Feld. Die Männer liegen da herum, als hätte sie einer vergessen. Und überall liegen, überall liegen ... abgetrennte Gliedmaßen“. Da klingt die Erzählung aus dem Ersten Weltkrieg erstaunlich aktuell und erzeugt Gänsehaut. Eines ist sicher: Die Bilder dieser dichten Aufführung wirken noch lange nach.

Was: „Die Bagage“ von Monika Helfer in einer Stückfassung von Coco Plümer

Wo: Kleines Haus in Bremerhaven

Wann: Weitere Aufführungen: 21. und 27. September, 2., 24. und 30. Oktober, 30. November, 5. und 18. Dezember sowie am 3. Januar.

Karten: Zwischen 15,65 und 26,15 Euro unter 0471/49001 oder www.stadttheater.de

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Erstellt:
14.09.2025, 19:00 Uhr
Lesedauer: ca. 3min 35sec

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