Am ersten Tag ganz oben wacht Bärbel Wegner nachts auf und stellt fest, dass Max verschwunden ist. Sie macht Licht an, sucht jeden Winkel ihrer knapp 80 Quadratmeter großen Wohnung ab. Nichts. Dann fällt ihr Blick nach draußen auf den stockdunklen Balkon. Und ihr bleibt fast das Herz stehen.
Max ist ein Kater. Er ist seit sieben Jahren an der Seite von Bärbel Wegner. Als die Nordenhamerin in der besagten Nacht aufwacht, fürchtet sie, das Max keine zehn Sekunden mehr leben wird. Denn der Kater balanciert auf der Brüstung ihres Balkons. Im 13. Stock.
Dieser Kater ist trittsicher und schwindelfrei
Das Erlebnis ist etliche Jahre her. Max hat seinen Stammplatz auf einem kleinen Korbsessel in Bärbel Wegners Wohnzimmer. Und wenn er Auslauf braucht, dann geht er eben auf den Balkon, springt auf den Gartentisch, der dort steht, und von dort auf die Brüstung. Die Frau, die so hoch oben wohnt, wie sonst niemand in Nordenham, macht sich deshalb schon lange keine Sorgen mehr. Max ist trittsicher und schwindelfrei und offensichtlich mit einem exzellenten Gleichgewichtssinn gesegnet - ein Kater eben.

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Dieser Kater lebt im 13. Stock. Wenn Max nicht gerade auf seinem Rattansessel schlummert, turnt er gerne auf der Balkonbrüstung.
Bärbel Wegner könnte die dienstälteste Bewohnerin des Hauses Sachsenstraße 40 sein. Ihr erster Mietvertrag fürs Hochhaus datiert vom 20. November 1973; das Richtfest war da erst knapp zwei Monate her. Doch Bärbel Wegner wurde Nordenhams Wolkenkratzer für eine Weile untreu.
Traute Wiechmann wohnt seit 1974 ununterbrochen im Hochhaus
Deshalb ist es Traute Wiechmann aus dem zehnten Stock, die so lange wie sonst niemand im Hochhaus wohnt - seit 1974 ununterbrochen. Die heute 77-Jährige hat einige Jahre in Hamburg gelebt und dort in einem Krankenhaus in Altona gearbeitet. Von den Patientenzimmern im 10. Stock konnte man die Elbe und das Volksparkstadion sehen. „Wenn der HSV spielte, standen wir mit Ferngläsern am Fenster“, erinnert sich Traute Wiechmann. Als sie nach Nordenham zurückkehrte, stand für sie fest, dass sie weit oben wohnen würde. Da kam nur Hochhaus in Frage. Die Entscheidung hat Traute Wiechmann nie bereut.

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Ein Blick in die Essecke in Bärbel Wegners Wohnung. Eine Tapete, die lauter Topfpflanzen in Regalen zeigt, dominiert den Raum - und lässt einen vergessen, dass man sich hier im 13. Stock befindet.
48 Jahre später sitzt die 77-Jährige auf einen Kaffee bei Bärbel Wegner am Esstisch. Deren Wohnung über den Dächern Nordenhams ist gemütlich eingerichtet, die Wände sind in warmen Farben gestrichen. Bärbel Wegner scheint einen grünen Daumen zu haben. Überall stehen Grünpflanzen, und die gedeihen alle prächtig. Im Sommer auch auf dem Balkon. „Der ist dann eine richtige Oase“, schwärmt die 68-Jährige.
Besucher kommen aus dem Staunen nicht heraus
Wie in einer Oase kommt man sich auch im Wohnzimmer vor, denn eine Wand wird von einer Tapete dominiert, auf der reihenweise Topfpflanzen in Regalen stehen. Dass man sich hier im 13. Stock befindet, könnte man glatt vergessen, ehe einen ein Blick aus dem Fenster in die Realität zurückholt.

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Wer auf Schiffe steht, bekommt hier viel zu sehen. Der Blick nach Osten auf die Weser ist der vielleicht spektakulärste.
Der Ausblick ist gigantisch, selbst an einem trüben Novembervormittag. Bärbel Wegner und Traute Wiechmann haben sich längst daran gewöhnt, so wie sie sich daran gewöhnt haben, dass Max auf der Balkonbrüstung herumturnt. Aber Besucher kommen aus dem Staunen nicht heraus. Im Norden sieht man das Rathaus und die Hafenanlagen der Midgard. Im Osten fährt ein Schiff über die Weser. Die Südschule sieht aus wie ein Gebäude auf einer Modelleisenbahn.
Bärbel Wegners Wohnung war früher eine Sauna
Genau diesen Blick genossen auch die Gäste des Cafés, das sich ursprünglich im 13. Stock befand. Als es sich nicht mehr trug, weil die Gäste ausblieben, ist eine Wohnung daraus geworden, die aktuell leer steht. Bärbel Wegners Wohnung ist die frühere Sauna. Und gleich nebenan liegt das Filetstück.
Das Schwimmbad, das einst neben Café und Sauna das dritte i-Tüpfelchen des Hochhauses darstellte, wurde ebenfalls zu einer Wohnung umgebaut. Sie erstreckt sich über drei Ebenen. Die Fensterfront und der riesige Balkon ermöglichen den Blick nach Osten auf die Weser und nach Süden in Richtung Brake. Und nichts lässt erahnen, dass sich dort, wo heute Laminat verlegt ist, einst ein Schwimmbecken befand, in dem Menschen in 40 Metern Höhe durchs Wasser planschten. Die Wohnung ist wie der Ausblick: traumhaft. Aber auch sie ist zurzeit verwaist.
In den ersten Wochen gab es noch keine Fahrstühle
Bärbel Wegner kann sich gut an die Zeit erinnern, als oben das Schwimmbad noch existierte. Sie war Ende 1973 zunächst in den elften Stock gezogen. In den ersten Wochen gingen die Fahrstühle noch nicht. Auch die Mieter, die weit oben wohnten, musste die Treppe nehmen - oder eben in ihrer Wohnung bleiben. Später zog sie hoch in den 12. Stock. Genau über der Wohnung befand sich das Schwimmbad. In einer strengen Frostnacht platzten Rohre. Zum Glück kam schnell Hilfe, so dass sich der Wasserschaden in Grenzen hielt.
Bärbel Wegner kehrte dem Hochhaus für eine Weile den Rücken, zog in die Innenstadt. Und dann schnell wieder zurück. Diesmal sollte es die Wohnung sein, von der es höher nicht mehr hinauf geht. Die 13 bringt Unglück? Nicht hier oben. Bärbel Wegner will nie wieder ausziehen. Auch wenn sich vieles verändert hat.
Für Weihnachtsfeiern leer stehende Wohnungen genutzt
Die beiden Frauen denken an die Zeiten zurück, in denen es noch eine funktionierende Hausgemeinschaft gab. Im Sommer wurden Grillfeste gefeiert. Im Winter nutzten die Mieter einfach eine leer stehende Wohnung, um sich zu einer Weihnachtsfeier zu treffen. „Die einen brachten Salate mit, die anderen Getränke“, erinnert sich Traute Wiechmann. Bärbel Wegner steuerte meist eine Stehlampe und ein Verlängerungskabel bei, damit die Gesellschaft nicht im Dunkeln saß; der Strom nämlich wurde in nicht vermieteten Wohnungen abgestellt.
Das ist noch heute so. Ansonsten ist alles schnelllebiger, unpersönlicher, anonymer, die Fluktuation größer geworden. Mieter kommen, Mieter gehen. Eine Flüchtlingsfrau aus der Ukraine, die in einer Wohnung unten untergekommen ist, würden Traute Wiechmann und Bärbel Wegner gerne mal zum Kaffee einladen. Aber dafür sind die Sprachbarrieren zu groß.
Ein Abbild der Gesellschaft - verdichtet auf 13 Stockwerke
Ein bisschen ist das Hochhaus wohl ein Mikrokosmos, ein Abbild der heutigen Gesellschaft, verdichtet auf 13 Stockwerke und 63 Wohnungen. Traute Wiechmann und Bärbel Wegner leben mit den Veränderungen und akzeptieren sie. Sie wohnen gerne im Hochhaus und könnten sich auch nichts anderes mehr vorstellen.
Unter anderem, weil es so schön ruhig ist da oben.
Nur wenn es stürmt und der Wind die Fahrstuhlschächte hochrast, dann kann es ein bisschen unheimlich werden. „Dann klingt es“, sagt Bärbel Wegner, „als würde ein Rudel Wölfe heulen“.
Im April 1973 begannen die Rammarbeiten für das Hochhaus am Mittelweg. Errichtet hat es eine Westersteder Baugesellschaft; Architekt war Klaus von Döllen aus Oldenburg.
Richtfest war am 28. September 1973. Am 23. Februar 1974, ein Samstag, hatte die Bevölkerung Gelegenheit, Nordenhams 40 Meter hohen „Wolkenkratzer“ zu besichtigen. Aus Unterlagen des Nordenhamer Sammlers und Heimatkundlers Dieter Winkler geht hervor, dass sich mehr als 5000 Besucher die damals 60 Wohnungen anschauten.
Das Hochhaus umfasste zu der Zeit 24 Einzimmerwohnungen mit je 42 Quadratmetern Größe, 24 Zweizimmerwohnungen zu je 63 Quadratmetern und 12 Dreizimmerwohnungen mit je 82 Quadratmetern Wohnfläche.
Im 13. Stock befand sich ein 7 mal 4 Meter großes Schwimmbad sowie eine Sauna und ein Café. Diese Einrichtungen existieren schon lange nicht mehr, weil die Besucherzahlen irgendwann den Betrieb nicht mehr rechtfertigten. Stattdessen entstanden im 13. Stock drei Wohnungen, von denen aktuell zwei - das ehemalige Café und das frühere Schwimmbad - leer stehen. Bewohnt ist nur die Wohnung, in der sich früher die Sauna befand.
Am Fuße des Hochhauses gab es einen Anbau mit einer 1500 Quadratmeter großen Ladenfläche und einer Kegelanlage mit fünf Doppelbahnen. Der Anbau beherbergte auch ein Fitness-Studio. Er wurde später abgerissen. Heute sind die Bewohner des Hochhauses froh, dass sich am Fuß des Gebäudes der Aldi-Markt und der Hochhaus-Kiosk befinden.