Nach der spektakulären Wende im Fall des getöteten Stubbener Wolfes, der laut vorläufigem Obduktionsergebnis von einem Artgenossen totgebissen wurde, reiben sich Laien wie Experten die Augen. Für viele ist es unverständlich, wie erfahrene Jäger, Wolfsberater und Polizei wochenlang behaupten konnten, der Wolf sei von mehreren Kugeln getroffen worden, noch dazu aus unterschiedlichen Waffen.
„Für mich sieht das nach Bissverletzungen aus“, urteilte Christian Berge in den sozialen Netzwerken nach Ansicht zweier Fotos in der Facebook-Gruppe „Land oder Wolf“. Der ehemalige Anwalt und Wolfsaktivist lebt seit Jahren als Aussteiger mit seinen Wolfshunden in einem Wald bei Hannover. Das Besondere an Berges Vermutung: Sein Eintrag datiert vom 18. Oktober, nur einen Tag nachdem ein Spaziergänger den toten Wolf im Revier von Jagdpächter Dietrich Fricke entdeckt hatte.
Als „Klassiker“ beschreibt Berge die Bissverletzung am Hals des Wolfes im Gespräch mit der NORDSEE-ZEITUNG. Mit der entsprechenden Erfahrung sei dies relativ leicht zu erkennen - vor allem dann, wenn man das Fell aufklappe. „Normalerweise hat ein solches Tier über den ganzen Körper Bissverletzungen“, so der 59-Jährige. „Es macht mir Angst, dass Menschen, die von Berufs wegen mit Waffen zu tun haben, nicht wissen, wie ein Schuss aussieht.“ Zumal dieser Irrtum in jüngster Vergangenheit bereits drei weitere Male allein in Niedersachsen vorgekommen sei, so Berge. „Prognosen abzugeben, die so falsch sind, ist jedenfalls kontraproduktiv.“
Wolfsberater Neuman: Haben Lehrgeld gezahlt
Wolfsberater Silas Neuman, der in Stubben vor Ort war und den Kadaver zum Einfrieren ins Cuxhavener Kreishaus brachte, bedauert die Fehleinschätzung. „Ich selbst habe am Fundort einem Kollegen assistiert, der Jäger ist“, sagt er. Letztlich habe er sich auf die Aussagen der anderen Experten vor Ort verlassen. „Am Ende hätte man aber deutlich sagen müssen, es handelt sich lediglich um einen Verdacht“, so Neuman. „Da haben wir eindeutig Lehrgeld gezahlt.“
Dem Wolfsberater zufolge seien selbst die Experten im Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), wo die Obduktion des Tieres Anfang der Woche erfolgte, zunächst von Schussverletzungen ausgegangen. „Erst als sie das Fell abrasiert haben, sind die vielen Bisswunden aufgefallen“, sagt Neuman. Eine solche Untersuchung dürfe er als Wolfsberater aber gar nicht vornehmen. „Wir sind nur dazu da, Dinge zu dokumentieren. Am Ende braucht es doch immer das IZW.“

© Saskia Stöhr
Wolfsexperte Christian Berge kann nicht verstehen, warum lange Zeit angenommen wurde, der Stubbener Wolf sei erschossen worden. „Jäger und Polizisten müssten doch in der Lage sein, Schussverletzungen zu erkennen“, sagt Berge.
Auch Jäger Dietrich Fricke gibt zu, sich bei der Begutachtung des toten Wolfs in seinem Revier getäuscht zu haben. „Wir standen da mit vier erfahrenen Jägern rum, und alle waren sich einig, dass das große Loch am Hals ein Ausschuss war“ - in der Jägersprache die Stelle, an der das Geschoss den Körper verlassen hat. Auf der linken Seite des Wolfes habe man zudem ein einziges, „kalibergroßes Loch“ entdeckt. Fricke fragt sich heute noch: „Wie kann ein Wolf nur mit einem Zahn zubeißen?“
Auch die zwei anwesenden Polizisten, erinnert sich Fricke, hätten sich „komplett auf die Experten verlassen“. Dieser Eindruck wird von der Polizei weitgehend bestätigt. Auf NZ-Nachfrage teilt Jasmin Föge, Sprecherin der Polizeiinspektion Cuxhaven, mit: „Die Polizei hat lediglich eine Inaugenscheinnahme durchgeführt. Eine Untersuchung des Kadavers erfolgte durch Fachleute.“ Aufgrund der neuen Erkenntnisse zur Todesursache des Wolfes würden „keine weiteren Ermittlungen bei der Polizei geführt. Der Vorgang wird an die Staatsanwaltschaft Stade abgegeben“, so Föge.
“Der Wolf hat einen natürlichen Feind: den Wolf“
Christian Berge hat eine Theorie, warum die Todesursache bei Wölfen häufig falsch vorausgesagt wird. „Viele Menschen wissen nicht: Der Wolf hat einen natürlichen Feind, nämlich den Wolf.“ Im US-Nationalpark Yellowstone hätten Wissenschaftler herausgefunden, dass sechs von zehn Wölfen durch Artgenossen sterben würden. „Die Leute wissen einfach zu wenig über das Thema“, glaubt Berge.
Was dem Wolfsaktivisten zufolge im Fall Stubben ebenfalls für einen Kampf unter Wölfen spricht, ist die Lage. Berge bezeichnet den dortigen Wald als „Bermuda-Dreieck“. Für die Rudel in Schiffdorf, Garlstedt, Vollersode und Gnarrenburg liege Stubben keine 15 Kilometer entfernt. „Dadurch kommt es zu Überlappungen und Konfrontationen“, sagt Berge.
Das Körpergewicht des toten Wolfs, der als Alpharüde des Vollersoder Rudels identifiziert wurde, lässt Berge zufolge auf eine Krankheit schließen. „Der Wolf war mindestens viereinhalb Jahre alt, er hätte viel mehr wiegen müssen als 32 Kilogramm“, sagt der 59-Jährige. Gegen einen ausgewachsenen Konkurrenten habe er deshalb wohl kaum eine Chance gehabt, so Berge.